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Bei Kaspar Hausers Pflegebruder Julius Meyer (1835-1913)

Jawohl, mein verehrter Leser, auch den habe ich gekannt. Na überhaupt Kaspar Hauser!

Es gibt einen Roman, worin der grausige Blödsinn, der sich um den Kaspar herum vor 100 Jahren begeben hat, als eine Ausgeburt der ›Trägheit des Herzens‹ erklärt wird. Dies ist die Redensartenmacherei eines Schriftstellers, der geschichtliche Hintertreppenromane, z. B. den von der ›Eisernen Maske‹, für lautre Wahrheit hält und selbst dafür sorgt, daß die Gattung der Hintertreppenromane mit Räubergeschichten doch ja nicht aussterbe. Die urkundlich beweisbare und längst bewiesene Wahrheit ist die, daß die Kaspar-Geschichte nicht aus der Trägheit des Herzens, sondern aus der – Dummheit ist zu schwach – Dämlichkeit des Gehirns erflossen ist und aus dieser Dämlichkeit bis heute ihre Nahrung saugt.

Ich behandle die Hauserei unter den ›Dingen‹, denn den Menschen Kaspar Hauser habe ich, trotz meinem Alter, nicht gekannt, den Hintertreppenroman seines Lebens sehr gründlich. Ich kenne auch die Schriften Derer, die aus jenem armen Landstreicher durchaus einen Prinzen machen wollten, wobei ich nicht umhin kann, an Mark Twains reizenden Roman ›Der Prinz und der Betteljunge‹ zu denken.

Über die sehr einfache Geschichte Kaspars hier kein Wort. Wer sich darüber wirklich belehren will, für den gibt es das große Urkundenwerk von A. von der Linde. Es ist ein bißchen langweilig, gar zu ausführlich, gar zu reich an Urkunden; aber das muß einmal gesagt werden: Wer dieses Werk gelesen hat und dann noch an den Prinzen Kaspar glaubt, den lasse man glauben, denn ihn macht das glücklich, uns Vernünftigen schadet es nicht, und Rechtsansprüche aus Kaspars Prinzenschaft können nicht erhoben werden, denn der Hintertreppenromanheld hat keine beglaubigte Nachkommenschaft hinterlassen.

Schon lange vor Lindes Werk gab es ein Buch, das zur Kenntnis der Wahrheit über Kaspar genügte: die Aufzeichnungen über ihn von der Hand des Ansbacher Lehrers Meyer, unter dessen Obhut Kaspar die letzten Jahre seines Lebens verbracht, in dessen Hause er an den unvorhergesehenen Folgen seiner Selbstverwundung, die aber kein Selbstmordversuch war, gestorben ist. Jener Lehrer Meyer hat den Kaspar gekannt, wie keiner in jener Zeit; was er über ihn niedergeschrieben, schlägt alle alte und neue Schauerromane tot. Wer außer Lindes Riesenwerk noch Meyers Aufzeichnungen kennt und dann des Herrn Wassermann Herzensträgheitsroman oder die verschiedenen Mordsdramen um den Hauser herum liest, der genießt ein gewisses Vergnügen der geistigen Überlegenheit über eine besondere Gattung der Schundliteratur. Diese Schundliteratur ist ja nichts Neues. In der Zeit, als Kaspar Hauser in Nürnberg einrückte, las alle Welt, auch die hohen Amtspersonen, die Schauerromane von Deutschen und Engländern, in denen geraubte Prinzen, Kindesunterschiebungen, unterirdische Verliese, Mordtaten aller Art das tägliche Lesefutter waren. Ohne die durch solche Schauerromane erzeugte Geistesverwirrung jenes Zeitgeschlechts ist die ganze Hauserei nicht zu begreifen. Der große Rechtslehrer Feuerbach hatte sie auch gelesen, jene Gruselgeschichten, und stand garnicht erhaben darüber. Und erst Daumer! Schreiber wie Wassermann gab es damals zu Dutzenden, nur wurden sie nicht für Dichter gehalten, sondern nur für geschickte Zeittotschläger. Sie sind versunken, wie Wassermann versinken wird.

Als Herausgeber des ›Magazins‹ bekam ich zu Anfang der 80er Jahre die von dem Sohne jenes Lehrers Meyer besorgte Neuauflage der Aufzeichnungen seines Vaters über Hauser. Nie hatte ich an dessen Prinzenschaft geglaubt, immer eine große Dummheit aus der Zeit der Romantik hinter dem Geraune über Hauser vermutet, und nun kam mir das Buch zur Hand, das durch seinen Verfasser von vornherein berechtigten Anspruch auf Glaubwürdigkeit hatte. Ich las, wurde gepackt, las bis zu Ende und war völlig überzeugt. Jeder heutige Schutzmann hätte jenen den ›wilden Mann‹ spielenden Landstreicher ›Hauser‹ auf dem Fleck zum Geständnis gebracht; jeder seine blutigen Zusammenstöße mit dem furchtbaren großen Unbekannten sofort für aufgelegten kindlichen Schwindel erklärt und aufgeklärt. In jener hochromantischen Zeit, wo Romane von der Art der Ann Ratcliffe und der Hugoschen Notre Dame von Paris die Gemüter in Bann geschlagen hatten, wo geraubte Prinzen, unterirdische Kerker als lebende Begräbnisse unbequemer Menschen für gewöhnliche Tagesereignisse im Reiche des Romans, also auch des Lebens galten, wo selbst ein berühmter Strafrechtslehrer, Feuerbach, jedem wüsten Gespensterglauben zum Opfer fiel, da hatte es der schlaue Wanderbursche leicht, sich in eine schauerromantische Jugendzeit hineinverhören zu lassen.

Ich dankte dem Herausgeber des Buches, einem Amtsrichter Julius Meyer in Ansbach, dem Sohne des ursprünglichen Verfassers, also dem nachgeborenen Pflegebruder Kaspar Hausers, er erwiderte mir etwas, dann brach unser Briefverkehr ab. Nachmals habe ich noch Lindes Werk gründlich durchgearbeitet, auch manches der albernen Schauerbücher über den geraubten Prinzen Kaspar gelesen, zuletzt den drolligen Roman Wassermanns von der Herzensträgheit, – fürwahr ich war ›im Bilde‹.

So ausgerüstet überlegte ich im Jahre 1912 bei der Heimkehr von einer Reise durch die Schweiz, in welcher süddeutschen Stadt ich Herberge machen könnte, da ich vom Bodensee kommend nicht durch die Nacht fahren wollte. Im Kursbuch suchend fand ich Ansbach als passende Unterbrechung, und da durchzuckte mich der Gedanke: ob wohl jener amtsrichterliche Pflegebruder Kaspars noch lebte?, und ob ich nicht unter seiner Führung die Örtlichkeiten der Schwindelgeschichte besichtigen könnte? Er mußte hoch in den 70ern sein, aber er konnte leben und mich empfangen. In meinem Gasthof erfuhr ich: er lebte, hochbetagt, im Ruhestand als ehemaliger Landgerichtspräsident, leidend, aber allabendlich zu Biere gehend, in eine nahe gelegene Wirtschaft; wenn ich sogleich hinginge, würde ich ihn wohl treffen. Es war um 10½ Abends, ich brach auf, – er war soeben nach Hause gegangen, Wohnung da und da. Ich bin, bei Mondenschein; ein Klingelzug mit Namen, ein Fenster im ersten Stock tat sich auf, seine Hausbesorgerin – er war Witwer – sprach herunter: Ich komme. Sie kam –: Ob ich den Herrn Präsidenten noch sprechen könne, hier meine Karte, ›in Sachen Hausers, Erinnerung an Ihres Vaters Buch‹. Er empfing mich, ließ Bier holen, – ich sprach mit Kaspar Hausers Pflegebruder über Kaspar Hauser bis Mitternacht, verabredete mit ihm eine Zusammenkunft morgen Vormittag vor dem ›Hauser-Museum‹, d. h. vor einem städtischen Gebäude mit einem Hauser-Zimmer.

Gesprochen haben wir nur über die Fragen: Was mag der Landstreicher wohl gewesen sein, bevor er, wandermüde durch ein Tor Nürnbergs stapfend, in die Klatschgeschichte des 19. Jahrhunderts seinen Einzug hielt? – Warum hat man den auf dem Sterbebett zu einem Geständnis Hindrängenden sterben lassen, ohne daß ein Seelsorger ihm gesagt hatte: Armer Bruder Kaspar, du wirst noch heute vor Gottes Thron stehen, – so erleichtere dein gequältes Herz durch ein offnes Bekenntnis! Woher kamst du damals nach Nürnberg? – Wie heißest du in Wahrheit? – Was ist aus dem Messer geworden, womit du dir im Park die Haut deiner Brust geritzt hast?

Er hätte gestanden, aber man hat sich gegen den armen sterbenden Burschen ebenso dumm und stumpf benommen, wie Jahre hindurch gegen den Lebenden. Julius Meers Überzeugung war die seines Vaters: der Mensch, den man Kaspar Hauser benannt, war ein Kleinbauernbub aus dem fränkischen, mit etwa 16 Jahren entlaufen, mit einer Kunstreiterbande als Stallbursche umhergezogen, auch dieser entlaufen und unter kindischen Spiegelfechtereien, um der Polizeihaft wegen Landstreichens zu entgehen, in Nürnberg hineingeschlichen. Auf die Kunstreiterbande war man deshalb verfallen, weil der Bengel, in den man den mehr als zehnjährigen Aufenthalt im unterirdischen Verlies, in Fesseln, verkrümmt, ohne Tageslicht, hineinverhört hatte, in der ersten Reitstunde, die ihm seine liebevolle Pflegemutter die Stadt Nürnberg erteilen ließ, sogleich zu allgemeinem Verblüffen auf ungesatteltem Pferde reiten konnte wie ein ausgelernter Kunstreiter. Indessen solche Kleinigkeiten blieben bei dem geraubten Prinzen ungedeutelt, und selbst der große Feuerbach nahm daran keinen Anstoß. Bei einem geraubten Prinzen durfte man nicht kleinlich forschen; › minima non curat praetor‹ (um Läppereien kümmert sich die Behörde nicht) heißt ein Grundsatz im Corpus juris.

Wir sprachen über Wassermanns damals sehr berühmten Roman, und wir lachten sehr. Wir sprachen noch über andre dichterische Ausschlachtungen des ›Kaspar Hauser-Problems‹, und unsre Heiterkeit wuchs. Dann aber überkam mich der Ernst, und ich sagte zu dem alten Präsidenten, dem letzten lebenden genauen Kenner des Hauser-Schwindels aus der besten Quelle: An dem wahren dichterischen Stoff, den der arme Hauser darstellt, sind alle unsre Roman- und Dramenschreiber stumpfsinnig vorbeigegangen, sie alle aus der wahren Trägheit des Herzens, nur bedacht auf den Schauerreiz der verbrecherischen Mutter, des ausgesetzten Kindleins, des schrecklichen Kerkers und aller Albernheiten der Jahrmarktbücher. Wie aber hat es in der Seele jenes unschuldig-schuldigen Jungen ausgesehen, der aus Furcht vor einer kleinen Polizeistrafe sich von einem ganzen Haufen amtlicher Dummköpfe in den furchtbarsten Lebensbetrug hineinstoßen ließ und dann aus dem zähen Lügenmorast nicht mehr hinauskonnte, weil er wußte, ein freimütiges Geständnis der Wahrheit würde ihn für viele Jahre ins Zuchthaus bringen. Und dann wird dieser geistig ungebildete, gemüthaft verrohte Junge unterrichtet, er verkehrt mit guten, feinen Menschen, mit Männern, Frauen, jungen Mädchen, er entwickelt sich, er wird seelisch gewandelt, steigt innerlich empor, wird – zwar kein Prinz, aber ein anständiger gebildeter Jüngling und Jungmann, doch immer unter der gewitterdunklen Wolke der Entdeckung, der Ausstoßung in die Kerkerwelt der Verbrecher. Verdacht wird rege, die romantischen Duseldünste verfliegen, kein vernünftiger Mensch in seiner Umgebung glaubt mehr an eine hohe Abkunft; er gilt bei sehr vielen für einen Lügner, einen Betrüger; sein Pflegevater Meyer, der ihn liebevoll behandelt, ist überzeugt – das weist Kaspar –, daß sein Pflegling alle Welt getäuscht hat, noch täuscht. Was soll daraus werden? Haben sich die Menschen, die an ihm zweifelten, gefragt: Wie kann er gestehen? Was wird dann aus ihm? Hätte man ihm Straflosigkeit zugesagt, er hätte gestanden, um die täglich erdrückendere Last des ihm Jahrelang aufgezwungenen Betruges von seiner Seele zu schleudern. Keiner hat daran gedacht, auch ›der große Kriminalist‹ Feuerbach nicht. So mußte der Unglückselige nicht nur seine ihm auferlegte Rolle weiter spielen, sondern von Zeit zu Zeit das Gebäude des blöden Märchens vom verfolgten Prinzen stärken, stützen, denn es drohte vor der wachsenden Helle des Zeitalters einzustürzen. Daher der Schwindel des ersten Mordanfalls des großen Unbekannten, der sich auf den seine Notdurft verrichtenden wehrlos dasitzenden Kaspar mit einem grausigen Dolche wirft und – ihm eine ganz unschädliche Schramme an der Stirne versetzt. Damals schon hatten die Denkenden kein Wort geglaubt, aber die amtlichen Dummköpfe hatten tagelang mit Aufgebot der bewaffneten Macht nach dem Mörder gespürt.

Doch jener zur Not geglückte Schwindel hielt nicht sehr lange vor, immer dringender wurde der Verdacht, immer unverhüllter die Gewißheit der Vernünftigen, daß Hauser ein Betrüger sei. Er wurde gradezu unmöglich, die Bombe mußte eines Tages platzen. Wo war die Rettung? Es gab keine, ein Geständnis war das Verderben: also weiter schwindeln, noch einmal eine Mordsgeschichte ›drehen‹, diesmal aber mit einigem Bluterguß. So brachte sich der gehetzte am hellen Tage im Ansbacher Park den Riß in der Brusthaut bei, rannte blutend in des Lehrers Meyer Haus, erzählte seine Geschichte von dem zweiten großen Unbekannten, setzte dadurch abermals die gesamte Landjägerei in Bewegung, und dann kam die Erlösung: Eiterung der Rißwunde, der Brand, wie die Wundvergiftung damals hieß, das Fieber, das Ende. Im Fieber hatte er bekennen wollen, seine letzten Worte hat Meyer aufbewahrt; die Trägheit der Herzen ließ den Bejammernswerten in seiner Lüge ausatmen.

Nicht so ausführlich wie hier habe ich damals zu dem Präsidenten Julius Meer gesprochen, doch so, daß er gleich mir ergriffen war von dem Trauerspiel einer gequälten Jünglingsseele, das sich vor uns aufgetan. Er zeigte mir Schreibhefte Hausers – es war festgestellt worden, daß er schon lesen und schreiben konnte, als der Unterricht begann, also vom finstern unterirdischen Verliese her! Er zeigte mir das blutgefleckte, nicht blutgetränkte, Hemd, das er am Tage des ›Mordanfalls‹ getragen. In einigen der dichterischen Ammenmärchen vom Prinzen Hauser geschieht der Überfall von hinten und der Mordstahl dringt dem Ärmsten tief in den Nacken. Wir betrachteten alle jene Überbleibsel des Unglückseligen; wir lächelten nicht, trotz unsrer Überzeugung, daß alles von einem Menschen herrührte, der ein Scheinleben geführt hatte. Unser vorwiegendes Gefühl war: O über die Dummköpfe, die gelehrten und die beamteten!

Wir verabschiedeten uns erschüttert; wir wußten, wir würden uns nicht wiedersehen. Meyer schickte mir bald darauf die Aushängebogen der von ihm bearbeiteten neuen Auflage des Buches seines Vaters. Grüße gingen und kamen. Im Jahre drauf, 1913, ist Julius Meyer in Ansbach gestorben.

Und nun, ihr Hauser-Dichter, schwärmet weiter für den unterschlagenen badischen Kronprinzen, schildert uns seinen Kerker, lasset ihn einmal halb, dann ganz ermorden, und gehet trägen Herzens vorbei an einem der herzrührendsten Trauerspiele: dem des Armen, den man schuldig werden ließ und dann der Pein überließ.

Die Welt will beschwindelt sein, also wird sie beschwindelt. An der schlichten Wahrheit, die viel seltsamer, dichterischer ist als der Schwindel, geht sie vorüber, weil die Wahrheit dem Auge des Alltagsmenschen ihre Reize entzieht. Die Wahrheit der ›Eisernen Maske‹ ist viel merkwürdiger als die dumme erfundene Schnurre von ihr. Was für ein öder Kerl ist Bacon gegenüber Shakespeare! Wie langweilig und lächerlich ist der Unsinn über Lewkas im Vergleich mit dem von Homer betretenen, durchwanderten, umsegelten Ithaka! Und wie kindisch erscheint der Schauerroman vom Prinzen Kaspar Hauser, wenn man an das entsetzliche wahre Trauerspiel in der Seele jenes Bauern- oder Tagelöhnerjungen denkt!

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