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Schon die Römer machten sich lustig über die Art der Greise, die Gegenwart zu schelten, die Vergangenheit zu preisen, und Horaz hat das Wort geprägt vom gealterten › laudator temporis acti‹ (dem Lobredner der alten Zeit). Die Spötter haben Recht, aber die Greise haben nicht ganz Unrecht: die Vergangenheit war ihre Jugend, und Jungsein erscheint ihnen besser als Altsein, – will ihnen, will mir das jemand verübeln? Jedoch das Altwerden und Altsein hat, oder sollte einen Vorteil haben: ein wenig weiser zu sein als in der Jugend, und ein nachdenklicher Greis ist das meist. Er soll abwägen gelernt haben, – wozu sonst hat er lange gelebt? Ich bemühe mich ums Abwägen; ich schelte manches in der Gegenwart aus denselben Gründen, aus denen ich manches einst in der Vergangenheit gescholten habe, und ich strebe aus allen Kräften darnach, das Gute zu erkennen, das es zu allen Zeiten gegeben hat. Diese Tätigkeit ist nämlich viel erquicklicher als das unterschiedslose Schelten. Wäre wirklich jede Gegenwart, oder doch unsre, durchweg schlechter als die Vergangenheit, dann täten wir Alte in der Tat besser, Wilhelms 2. Rat zu befolgen, den Staub von unsern Pantoffeln zu schütteln und uns davonzumachen, nicht bloß aus unserm Vaterlande; denn fast alles, worüber manche Deutsche heute schelten, würden sie in andern Ländern ebenso scheltwürdig antreffen.
Eine planmäßige Aufzählung von Gut und Schlecht in alter und in neuer Zeit wäre langweilig; ich betrachte Gut und Schlecht in bunter Reihe, ordnungslos, wie mir's in den Sinn kommt. Da denke ich zuerst an mein Erlebnis mit dem ›Katasteramt‹, das ›bedauerte‹, man denke: bedauerte, meine hohe Hauszinssteuer nicht ermäßigen zu dürfen. Es war keine Ausnahme; es ist noch nicht die Regel, aber die Ausnahmen werden so zahlreich, daß sie bald Regel werden, und dann wird man sich die Ausnahmen nicht mehr gefallen lassen. Vor ein paar Tagen erhielt ich vom Versorgungsamt in Potsdam eine gedruckte Mitteilung, die begann: ›Sie werden gebeten … Alsdann wollen Sie …‹ Im Verlauf hieß es noch einmal: ›In Ihrem eigenen Interesse werden Sie dringend gebeten …‹ Was für eine Sprache! So etwas gab es in der guten alten Zeit in Preußen, in ganz Deutschland nicht. Keine Behörde bat den Deutschen Bürger um etwas; jede sah in ihm den Untertan, ihren Untertan, und befahl, herrschte an. Im mündlichen Verkehr schnauzte sie an, es sei denn daß man einen Zylinder auf dem Haupte trug, denn dann bestand die Möglichkeit, daß man selbst eine Obrigkeit war und sich das Anschnauzen nicht gefallen ließ.
Sind oder waren unsre Beamten von Natur unhöflicher, herrischer, schnauziger als in andern Ländern? Das hab ich nie geglaubt; – es war das Beispiel von oben, von sehr hoch oben. Der Regierungsgrundsatz ›Wer sich widersetzt, d. h. andrer Meinung ist, wird zerschmettert‹ war in seiner Art gewiß vortrefflich; er war auch keineswegs erst unter Wilhelm 2. der Ausdruck der Regierungsweisheit geworden, er hatte seit jeher, jedenfalls seit 1862 geherrscht; aber er war nicht recht geeignet, Beamte mit dem Gefühl zu erfüllen, daß sie dem Staat, d. h. dem Volk, d. h. jedem im Volk zu dienen, nicht zu gebieten hätten. Da sie aber wußten, daß man ganz oben mehr ans Zerschmettern dachte, so wollten sie alle, bis zum letzten Schutzmann und Nachtwächter, ein bißchen mitzerschmettern, oder doch als mögliche Zerschmetterer gefürchtet werden.
Der Deutsche Beamte in der guten neuen Zeit ist durchweg höflicher, menschlicher geworden. Er unterscheidet sich kaum mehr vom englischen, französischen, italienischen, amerikanischen Beamten. Der Deutsche Beamte weiß, daß die mit Zerschmetterung drohende Schnauzerei, die man in der weniger guten alten Zeit Schneidigkeit, Strammheit, Diensteifer nannte, heute hochoben nicht mehr als die weiseste Art angesehen wird, ein gebildetes freies Volk zu regieren und zu verwalten. Die Höflichkeit des Deutschen Beamten von heute ist der zwingende Beweis, daß die Schuld an dem früheren Geschnauze ausschließlich bei den vorgesetzten Behörden bis zu den höchsten hinauf gelegen hat.
In der Eisenbahn, am Postschalter, sogar im Steueramt – welche Fortschritte im Umgang mit den Staatsbürgern! Was für nette höfliche Schutzleute haben wir heute im Vergleich mit der abscheulichen alten Zeit. In Berlin herrschte früher eine Gemütskrankheit ›Blaukoller‹ geheißen, – sie ist erloschen, ausgestorben, das junge Geschlecht kennt nicht einmal den Namen mehr. Der anständige Berliner von ehedem haßte den ›Blauen‹, den Schutzmann, weil er in ihm nicht so sehr den Beschützer wie den groben Anschnauzer sah; er bekam den Koller beim Anblick des Blauen, wie der Stier beim Anblick eines Roten (so sagt man, aber es ist nicht wahr). Der Schutzmann, die ganze Polizei, einschließlich des Polizeipräsidenten, waren unbeliebt, um das mildeste Wort zu gebrauchen. In der guten neuen Zeit ist das völlig anders, besser, vortrefflich geworden. Wie sehr ist dadurch das Staatsbewußtsein des Deutschen Menschen gesteigert, veredelt worden! Der ehemalige Staat erschien dem Bürger so wie einst Friedrich Wilhelm der Erste, der die vor ihm ängstlich Weglaufenden, die frühesten Opfer des Blaukollers, einholte, durchprügelte und huldvoll belehrte: Ihr sollt mich nicht fürchten, ihr sollt mich lieben! – Ich glaube, in den Anfangsgründen der Kunst des Regierens sind die Gewaltner der neuen Zeit besser beschlagen als die der alten.
Vielleicht durch das Beispiel der Beamten, vielleicht aber aus dem tiefen Wandel der Deutschen Volksseele durch den Krieg, vielleicht sogar grade durch dessen unglücklichen Ausgang, ist der Verkehrston zwischen den Menschen um einen Grad gehoben worden. Ich habe namentlich im Reiseverkehr mit großer Freude wahrgenommen, um wieviel milder, liebreicher die Menschen unsrer Zeit gegeneinander geworden sind. Das gemeinsame Unglück hat uns alle brüderlicher gemacht. Daß wütende Parteigänger einander gelegentlich totschlagen, ändert an dem Gesamtsittenbilde nichts, denn die Mehrzahl eines Volkes besteht nicht aus wütenden Parteistieren.
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Eins hat sich nicht gebessert: die Behandlung der Deutschen Sprache durch das Deutsche Volk. Wie sollte sie? Die neue Schule, die Oberschule, die Aufbauschule, die Arbeitsgemeinschaftsschule und wie alle die wunderwirkenden Schulen mit den neumodischen Namen und den unerschütterlichen uralten Lehrplänen heißen, sie alle wissen so wenig von einem wirklichen Unterricht in Deutscher Sprache wie die alten. In keiner einzigen Schule Deutschlands gibt es planmäßigen Unterricht im guten Deutsch. Für keine einzige Schule Deutschlands besteht das Ziel: kein Schüler darf sie verlassen ohne die Herrschaft über untadliges Deutsch. Wagt mir jemand zu widersprechen? Wagt ein Deutscher Unterrichtsminister mir zu widersprechen? Das war in der guten alten Zeit, z. B. in meiner Jugend, nicht besser; eine Volksschande aber ist es, daß es in den 60 Jahren nicht besser geworden ist. Nur großartige neue Namen haben manche Schulen bekommen, und großwortige neuste ›Richtlinien‹ für den Unterricht haben die Minister erlassen. Ein französisches Sprichwort über staatliche Zustände lautet: ›Je mehr sich's ändert, desto mehr bleibt sich's gleich‹.
Aber mit der greulichen Fremdwörterei ist es doch in dieser guten neuen Zeit besser geworden, nicht wahr? Ich höre das fast täglich, und die Leute, die mir das sagen, sind sehr traurig, wenn ich ihnen antworte: nein! An andrer Stelle spreche ich meine reiflich erwogene Ansicht über den Sprachzustand unsrer Tage aus (vgl. S.325), fasse hier mein Urteil kurz dahin zusammen: Die Verluderung der Deutschen Sprache grade in den geistigen Führerkreisen schreitet unaufhaltsam fort und sie wird nicht eher zum Stehen kommen, zurückgehen, verschwinden, als wenn die Deutschen Unterrichtsminister sich ernstlich entschließen, diesem die Deutsche Geisteswelt und damit ganz Deutschland schändenden Zustand ein Ende zu setzen. Dazu gehört, daß sie den herrschenden Zustand in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit erkennen, – das tun sie nicht –, und daß sie vor allem den Willen haben, die Fremdwörterei auszurotten, – und diesen Willen haben sie nicht. Im Gegenteil, sie wollen die Fremdwörter erhalten und pflegen, natürlich ›mit Maß‹. Wird ›das Maß‹ gehalten, so sind die Fremdwörter nützlich, nötig, ja sie sind das Höchste, was es in Deutschland gibt: sie sind Kultur, sogar ›humanistische‹, also die erlauchteste. Was zu beweisen ist und an seiner Stelle bewiesen wird.
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Über die großen Staatsfragen in der alten und der neuen Zeit zu sprechen geht hier nicht an. Ob Fürstenstaat oder Freistaat besser sei, muß einem andern Buche vorbehalten bleiben, und das wird ein Andrer, sogar mehr als einer, schreiben. Verhehlen aber will ich nicht: in der guten alten Zeit gab es Anblicke, die in der guten neuen Zeit zu verschwinden drohen: die ordengeschmückten Männerbusen vor Königsthronen und sonstwo. Sie sahen sehr schön aus, fast märchenhaft, und sie wirkten lebensbejahend: sie erzeugten und stärkten das Gefühl für menschliche Größe. So hoch also kann der Mensch es bringen; so gewaltig ist der Mensch, von dem der Chor bei Sophokles singt. Ein ganz mit Orden bedeckter Brustkorb wirkte überwältigend, der Glaube an die Menschheit wurde gestärkt. Freilich, freilich: ein großer Teil aller Orden war erkrochen worden, und damit ist es jetzt vorbei. Doch getrost: es wird immer Menschen geben, denen das Kriechen ein Bedürfnis ist, und es wird nie an Belohnungen für geschicktes Kriechen fehlen.
Vor Jahren wurde ich einmal von einem hohen Beamten gefragt, wie es mit meinem Charakter stünde? Ich antwortete: O ich bin leidlich mit ihm zufrieden und, was wichtiger ist, meine Frau auch. – Der hohe Herr hatte etwas andres gemeint: ob ich schon ein ›Rat‹ sei, etwa Hofrat, Kanzleirat, Regierungsrat, Rechnungsrat? Ich war nichts von alledem, hatte also keinen ›Charakter‹. War das nicht ein entzückendes ›Sprachleben‹ in der Welt der Fremdwörter? Es wurde mir damals nahegelegt, mir einen Charakter anzuschaffen; ich lehnte dankend ab und mußte meine Tage charakterlos hinschleppen. Gibt es das noch heute in der guten neuen Zeit? So viel ich weiß, sind die Orden abgeschafft, aber die ›Charaktere‹ haben zugenommen. Die Lehrer an meinem guten alten Gymnasium in Stolp hießen entweder: Herr Soundso, wenn sie noch sehr jung waren; oder Herr Doktor; oder Herr Oberlehrer. Darüber gab es den Herrn Sub- und den Herrn Konrektor. Sub- und Konrektor waren schon so etwas wie die Erzengel neben dem Herrgott Direx. Aber auch vor den paar Oberlehrern hatten wir bewundernde Hochachtung. Oberlehrer – wie das klang! Dem hörte man an, daß er nach oben gestiegen sei. Wie verehrten wir unsern Oberlehrer Adolf Oldenberg, den Äschylos-Übersetzer! Ich weiß aus dem Munde heutiger Schüler, daß ihnen der Studienrat, ja selbst der Oberstudienrat gar keinen Eindruck machen. ›Rat‹ ist ein Kanzlei-, ein Schreibertitel, und ich verstehe nicht, daß Lehrer, Männer der Wissenschaft im Dienste des Lebens, sich einen solchen nach Aktenbindfaden riechenden Amtstitel gefallen lassen. Freilich im Studienrat bläht sich ein vornehmes Fremdwort, Oberlehrer ist nur reines Deutsch. Wer Sinn für Vornehmheit auch in Äußerlichkeiten hat, wählt Oberlehrer. Ich glaube aber, der Studienrat ist aus einem Wunsche der Lehrerschaft selbst ›erflossen‹. Ob auch der ›Studienassessor‹? Gibt es ›Studienreferendare‹? Ich finde, in diesen Dingen war die alte Zeit die geschmackvollere. Unser Hermann Schütz, der große Sophokles- und Horaz-Gelehrte, war mit seinem schlichten ›Direktor‹ jedem heutigen ›Oberstudiendirektor‹ – welch ein Schwulst! – durchaus ebenbürtig. Nach meinem Staats- und Sprachgefühl passen solche bramsige Bürokratentitel viel besser in eine Monarchie als in eine Republik. Aber vielleicht verstehe ich von solchen Dingen nichts, – mir auch recht.
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In einem Punkte war die gute alte Zeit der noch so guten neuen Zeit hochüberlegen: damals hatte der Fußgänger ein Recht aufs Leben, heute nicht. Der Krafter (Auto) ist eine herrliche Erfindung, aber er macht das Leben in großen Städten für Menschen ohne Krafter zu einem Glücksspiel. In der guten alten Zeit konnte man in Berlin, selbst noch in der Zweimillionenstadt, ohne Lebensgefahr quer über die Leipziger- und die Friedrichstraße, ja selbst über den Potsdamer Platz gehen. Man bringt das noch heute fertig, aber man muß, um nicht totgefahren zu werden, seine Nerven in einer Weise anstrengen, die auf die Dauer verzehrend wirkt. Die Hauptaufgabe des Großstädters ist heute die: sein Leben im Straßenverkehr zu retten. Die Nervenkraft, die allein hieran gesetzt werden muß, ist ungeheuer. Die Großstadt in der guten alten Zeit war eine Stätte des Behagens, ja des Vergnügens; sie ist heute die Steinwüste, worin die Menschen zwischen zehntausend Mordwagen um ihr Leben kämpfen. Ich weiß, die meisten entgehen dem Tode; aber um welchen Preis! Die vier Kriegsjahre und die ersten ›Friedens‹jahre waren furchtbar, in jeder Hinsicht bis auf eine: Berlin war ohne Krafter, die Einwohner brauchten auf den Straßen nicht um ihr Leben zu kämpfen. Es ist undenkbar, daß die Menschheit sich auf die Dauer den Zustand gefallen lassen wird: der Krafter hat das Vorrecht, jeden Fußgänger, der ihm nicht aus dem Wege geht, totzufahren. Spätere Geschlechter werden nicht begreifen, daß man im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Fahrzeugen mit Eisenbahngeschwindigkeit gestattet hatte, durch menschenbevölkerte Straßen dahinzurasen. In dieser Frage handelt es sich nicht um fortschrittliche oder stillständische Gesinnung, sondern um Lebenbleiben oder Sterben.
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Vielleicht der größte Wandel von alter zu neuer Zeit hat sich im Bereiche der Dichtkunst vollzogen. Für alle andre Künste werden Gabe und Leistung gefordert, für die Dichtkunst sind sie entbehrlich geworden. Wer nicht Musik machen kann, der wird bestimmt kein berühmter Tonkünstler. Wer nicht zeichnen und malen kann, wird nicht als Zeichner und Maler genannt. Um das kleinste Haus zu bauen, muß man etwas von der Baukunst wissen. Es hat auch in der guten alten Zeit Dichter gegeben, die sich einen kleinen oder etwas größeren Namen gemacht und nichts Bleibendes hinterlassen haben; dichten aber haben sie alle gekonnt. Jeder hat Gedichte geschrieben, die man verstand und je nachdem für schön, ganz nett, leidlich erklärte. So haben z. B. alle Dichter vom ›Jüngsten Deutschland‹ in dem Jahrzehnt von 1885 bis 1895 dichten gekonnt. Das klingt sehr spaßhaft oder sehr platt, aber wie sollte ich anders sagen? Die Brüder Hart, Karl Henckell, Arno Holz, auch der unglückliche Hermann Conradi, der heute ganz Verschollene, ja selbst Karl Bleibtreu – sie konnten alle dichten: sie hatten Gedanken und Gefühle, die Wert genug hatten, um die Kunstform zu verdienen, und sie verstanden sich auf dichterische Formen. In dieser neuen Zeit ist das alles ganz und gar anders geworden. Man braucht heute nicht dichten zu können, um ein sehr berühmter Dichter zu sein. Ich habe diesen nie dagewesenen Fortschritt des Dichtungsbetriebes so eingehend in der letzten Auflage meiner Geschichte der Deutschen Literatur geschildert, daß ich mich hier darauf beziehen kann.
Das Merkwürdige an dieser unerhörten Neuheit ist: sie kommt ausschließlich in Deutschland vor. In allen andern Ländern ist man bei dem alten Verfahren geblieben: für einen Dichter gilt nur, wer dichten kann. Es gibt keinen unberühmten englischen, französischen, italienischen Dichter, der nicht dichten kann; es gibt Dutzende berühmter, ein gutes Dutzend hochberühmter Deutscher Dichter, die ganz und gar nicht dichten können. Seltsam, daß ich der Erste bin, der auf diese Ausnahmestellung Deutschlands in der Kunstgeschichte der Menschheit hingewiesen hat. Dumpf gefühlt hatten sehr viele diese wundersame Erscheinung, denn in Deutschland leben sehr viele Menschen mit gesundem Sinn für Kunst und Unkunst. Auszusprechen hatte es vor mir keiner gewagt, gedacht Unzählige. In den meisten Zeitungen und Zeitschriften geht es heute wesentlich anders zu als in der alten Zeit. In dieser wurde Schund meist Schund genannt; in der neuen und neusten je nachdem: expressionistisch, mystisch-agogisch, ekstatisch-alogisch, asketisch-erotisch, was besonders schön sein muß, numinos, dantesk, überkultiviert. Hin und wieder hilft man sich mit › ungekonnt‹; aber ›Schund‹ sagt keiner. In dem Maße nämlich, wie aus der Kunst das Ungekonnte, dennoch Berühmte wurde, breitete sich bei sehr vielen Leuten vom Bau eine Verblödung des Kunsturteils aus, wie sie seit den Tagen, wo die Besser, König, Canitz, Pietsch, vollends Gottsched für große Dichter galten, nicht wieder erlebt worden war.
In diesem Zustande befindet sich die Bildungswelt in der guten neuen Zeit. Ich stimme darüber keine Klagelieder des blinden Sehers an, denn ich weiß: selbst der berühmteste Schund ist kurzlebig, selbst die geschwollenste Gelehrttuerei der Poesieprofessoren um den Schund herum vermag nicht aus Schund – Kunst zu machen. Von den beiden Welten, die in dem Abschnitt auf S. 132 dargestellt sind, hat noch allemal die der Hochbildung gesiegt. Der Poesieprofessor Gottsched rühmte den Schund seiner Zeit, besonders den eignen, bekämpfte die aufsteigende wahre Dichtung, die sich der Bildungswelt in Klopstocks Messias darbot; doch was vermochte er? Und man bedenke: so mächtig wie vor bald 200 Jahren Gottsched ist heute kein Poesieprofessor, selbst nicht Gundolf. Auch diesem ist es nicht gelungen, wird es nicht gelingen, feierlichen Stumpfsinn, also Schund, den kunstverständigen Gebildeten als erhabene Poesie aufzureden. Hierzu sind die noch so gelehrt klingenden, selbstverfertigten, im Grunde lächerlichen Fremdwörter nicht im Stande.
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