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›Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche!‹

Weil diese Worte nur hingeredete Worte waren, nicht gefühlte und gewollte Wahrheit, darum ist Deutschland im Weltkriege besiegt worden. – Wer an der äußersten Grenze seiner Tage steht, dem vereinfachen sich die verwickeltsten Fragen, so mir die nach dem tiefsten Grunde der Deutschen Niederlage. Der erste Satz dieses Abschnitts spricht in einfachster Form das aus, was in vielen hundert Stunden seit dem Tage, wo ich die Worte der Überschrift gelesen, in mir hin und her, her und hin durchdacht, abgewogen, mit Freunden besprochen worden, endlich hier niedergeschrieben wird.

O wie wurden jene Worte bejubelt, wie war alle Welt beglückt, verzückt durch jene paar Worte! Ich traf am nächsten Vormittag den früheren Reichstagsabgeordneten Brömel, – er strahlte: ›Eine neue Zeit ist angebrochen!‹ Wieso? frug ich. Er war mir zugetan, doch in dem Augenblick mißfiel ich ihm. – ›Wieso? haben Sie nicht die Worte des Kaisers gelesen?‹ – Ja, die Worte, sagte ich, die Wörter, aber ist die neue Regierung der Deutschen aus allen Parteien schon gebildet? – ›Nein, halten Sie die für notwendig?‹ – Ich halte sie nach den Worten für selbstverständlich, und wenn sie nicht kommt, so waren die Worte nur Wörter.

Das Selbstverständliche geschah nicht; es geschah überhaupt nichts. Aber die Worte waren gesprochen, wie seit 26 Jahren so viele andre Worte, und sie blieben Worte, wohlklingend bewegte Luft. Die Worte kamen in Lichtbildschrift auf Bilder, wurden in Massen gekauft, es war wundervoll.

Bethmann mit seiner Regierung aus einer Partei blieb im Kampfe des Deutschen Volkes ums Dasein allein am Ruder; alle andre Parteien sahen zu, wie nur eine Partei, dieselbe wie seit Jahren, seit Jahrzehnten, vom Kaiser gekannt wurde, und die Deutschen, allerdings mit einigen Ausnahmen, fanden dies ganz in der Ordnung. Man führte sogar schöne Sprichwörter an zu Gunsten der einen Partei, z. B. daß man die Pferde nicht mitten im Strom wechsle; und vor allem: Hatte der Kaiser etwa jene Worte nicht gesprochen?, war die neue Zeit dadurch nicht geboren? Was sollte denn noch geschehen?

Was ich hier niederschreibe, nach 15 Jahren, ist kein Treppenwitz –: ich habe lebendige Zeugen dafür, daß ich alles Folgende schon damals gedacht, gesagt habe. Ich bin kein Staatsmann, kein politischer Weiser, kein Profet; es gehörte zu alledem ja keine Seherschaft, sondern nur ein Funke gesunden Menschenverstandes und statt des Papiers eine Seele. Seelenlos war unser Staatsleben seit einem Menschenalter gewesen; Reden auf Papier gedruckt sind noch nicht Seele. Das Deutsche Volk hatte sich durch das voranleuchtende Beispiel seines Herrschers daran gewöhnt, von Worten zu leben, ›sich mit Worten für bezahlt zu halten‹ wie eine gute französische Wendung lautet. Von dem Satze ›Ich führe euch zu herrlichen Tagen‹ bis zu dem: ›Ich kenne keine Parteien‹ – welche großartige Zeit! Zwar waren die herrlichen Tage nicht gekommen, aber was war das für ein herrliches Wort gewesen! Hatte je ein Herrscher etwas Ähnliches gesprochen, versprochen? Und konnte es eine bessere Regierung geben als die der unsterblichen einen Partei, nachdem der Kaiser im feierlichsten Augenblick verkündet hatte: Ich kenne überhaupt keine Parteien –?

In den Ländern unsrer Feinde hat beim Beginn des Weltkrieges kein Staatsoberhaupt so schöne Worte gesprochen wie Wilhelm 2. am 1. August 1914. Nein, etwas so Schönes konnte nur in Deutschland gesprochen werden. Aber in England schlossen sich sofort die Konservativen und die Liberalen zusammen und schufen eine Regierung aus beiden Parteien. In Frankreich berief man Sozialdemokraten, darunter die früher schroffsten Gegner alles Heerwesens, zu Ministern, und Frankreich führte seinen Krieg mit einer Regierung aus allen Parteien.

Daß Deutschland nur durch das Einsetzen seiner vollen Kraft sich vielleicht des Angriffs einer Welt erwehren könne, wußte jeder denkende Deutsche. Zum Einsetzen der vollen Kraft gehört die einheitliche Führung: dies wußten grade unsre Führer nicht. Ja ich war so töricht, ja ich habe geglaubt – und gewiß viele mit mir –, am Abend jenes 1. August werde der Kaiser an die Stelle der alten einparteilichen eine Regierung setzen, bei deren Bildung er keine Parteien kannte. Der Gedanke ist ihm garnicht gekommen. Warum auch? Hatte er nicht schönklingende Worte gesprochen, und waren die nicht bejubelt worden? War damit nicht alles geschehen, was die große Stunde gebot? War etwa an Bethmann etwas auszusetzen? Nun ja, er hatte den kleinen Irrtum begangen, Frankreich werde neutral bleiben, sogar seine Festungen Toul und Verdun als Pfänder für seine Neutralität darbieten, denn Frankreich sei ja eigentlich der liebe Nachbar Deutschlands und werde heilfroh sein, dem Kriege fernzubleiben. Auch England gegenüber hatte er sich verzeihlicher Weise ein wenig geirrt, hatte sich ein so reizendes Kartenhäuschen aufgebaut: England denke an keinen Krieg ›gegen seinen besten Kunden‹, werde neutral bleiben, und nun war dieses Kartenhäuschen plötzlich zu großer Überraschung des weise Vorausschauenden zusammengefallen. Aber ist Irren nicht menschlich? Konnte denn ein Mensch ahnen, daß England je gegen Deutschland Krieg führen würde? Muß man einen solchen Reichskanzler, ›der die Suppe eingebrockt hat, sie nicht auslöffeln lassen?‹ Es geschieht meiner Mutter ganz recht, daß mir die Hände erfrieren, – warum hat sie mir keine Handschuhe gekauft? Einen bessern Reichskanzler gibt es in ganz Deutschland nicht, einen noch bessern brauchen wir nicht, dieser wird es schon schaffen, ›mit Gottes Hilfe‹, wie er selbst zu dem besorgten Abgeordneten Heckscher gesagt hatte. Mit welchem Recht er auf Gottes Hilfe baute, das hat er keinem verraten. ›Mit Gottes Hilfe‹ und ›Ich kenne keine Parteien‹ – waren das nicht eiserne Bürgschaften des Sieges?

Solche Sachen, wie die Engländer und die Franzosen sie machen, die machen wir nicht nach. Bei denen treten alle Parteien zu einer Regierung zusammen, auf daß die gesamte Volkskraft aus geeintem Volkswillen hervorbreche; in Deutschland bleibt alle Regierung in den Händen einer Kaste, einer Partei, denn ›Ich kenne keine Parteien.‹ Warum also Minister aus andern Parteien berufen außer der einen, die unter der Leitung von Kanzlern dieser einen Kaste und einen Partei das Reich so trefflich regiert hatte, daß – daß wir uns jetzt im Kriege gegen die Welt befanden, ohne daß die Kanzler und Minister aus der einen Partei die geringste wirtschaftliche Vorbereitung auf einen solchen Deutschland von der Weltversorgung absperrenden Krieg getroffen hatten, den jeder Deutsche im Alter von 15 Jahren für unvermeidlich, für unmittelbar drohend gehalten.

Man stelle sich die Wirkung auf die Feinde, auf die Welt vor, wenn am Abend des 1. August im Reichsanzeiger gestanden hätte: ›Wir Wilhelm usw., nachdem Wir heute öffentlich mit den Worten ›Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche‹ Unsern kaiserlichen Willen bekundet haben, das ganze Deutsche Volk ohne jeden Unterschied der Partei aufzurufen zur Verteidigung des Vaterlandes gegen den uns aufgezwungenen Krieg, haben Wir Uns nach Beratung mit den Führern aller Parteien des Reichstags entschlossen, eine Regierung, zusammengesetzt aus den Vertrauensmännern aller Parteien, zu bilden. Wir tun kund und fügen zu wissen, daß Unsre neue Regierung besteht aus folgenden Männern: – –, ferner: Friedrich Ebert Reichsrüstungsminister, Philipp Scheidemann Reichsernährungsminister, usw., usw.

Man stelle sich vor: nicht mehr Reichskanzler, Staatssekretäre, Oberpräsidenten, Landräte, bis zu den staatlichen Nachtwächtern aus einer Partei, – ja man stelle sich dies deutlich, sichtbar, vollwirklich vor, und dann frage man sich, ob der Krieg nicht anders geführt, anders verlaufen, anders beendet worden wäre! Hätte eine aus allen Parteien zusammengeschweißte Regierung mit einem Reichskanzler an der Spitze, der ein Mann war, geduldet, daß ein todkranker Mensch an der Spitze des Generalstabs belassen würde, bloß weil er denselben Namen trug wie sein längst verstorbener siegreicher Oheim? Aber unter einer das ganze Deutsche Volk, nicht bloß die eine ewige Partei vertretenden Regierung von Männern wäre das meiste dessen vermieden worden, was uns das Verderben bereitet hat.

*

Tragen der Kaiser und seine nächsten Berater – alle aus der einen Partei – allein die Schuld, daß jenem Kaiserwort nicht am selben Tage die Tat folgte, die dem Wort erst Wert verlieh? Auf jedem lastet seine eigne Verantwortung, am schwersten auf dem Kaiser. Selbst wenn ihm nach seiner ganzen überlieferten Auffassung vom Staat und dem Träger der Staatsgewalt der Gedanke an die Berufung von Ministern aus allen Parteien, nicht zuletzt aus der sozialdemokratischen, nicht kam, nicht kommen konnte – was an sich schon nach seinen schönen Worten vom 1. August ungeheuerlich ist, der Gedanke ist ihm ja entgegengebracht worden! Der Admiral von Hintze hat die Tollkühnheit begangen, zum Kaiser von der Heranziehung einiger Sozialisten zu sprechen. Dieser Behauptung hat Herr von Hintze nie widersprochen.

Wie schwere Mitschuld aber tragen die Parteien des Reichstags, für die jene Kaiserworte doch von hervorstechender Bedeutung waren, und die keinen Finger rührten, um ein leeres Wort in eine rettende Tat zu wandeln! Keinem Abgeordneten auf der Linken ist in den Sinn gekommen, zum Reichskanzler Bethmann zu sagen, unter vier Augen oder, wenn nötig, im offnen Reichstag: Sie kennen die Worte des Kaisers, – wir nehmen als sicher an, daß Sie dem Kaiser schon Ihre und Ihrer Staatssekretäre Entlassung unterbreitet haben, damit er einen neuen Kanzler und eine neue Regierung aus allen Parteien wähle. Was hat die Linke, was haben die Sozialisten, die Freisinnigen, ja selbst die Nationalliberalen und sogar das Zentrum abgehalten, diese selbstverständliche Forderung des Tages zu erheben? Ja was wohl? Ich antworte aus meiner mehr als 30jährigen Erfahrung mit der Reichtagsseele, mit seiner ›Psyche‹ und seiner ›Mentalität‹, einfach so: Den vom Schicksal zur Macht berufenen Männern jener Parteien haben alle wichtigste Eigenschaften gefehlt: der Mut, die Klugheit, die glühende Vaterlandsleidenschaft. Die Untersuchung des Mangels dieser drei Eigenschaften im einzelnen ist hier unnötig, – mag ein Andrer sie vornehmen, der den Reichstag jener Tage kennt. Entscheidend aber war von den drei Gebrechen das der Mut-, der Entschlußlosigkeit, um den mildesten Ausdruck zu gebrauchen. Ein späterer Geschichtsschreiber, der die Ausdrücke noch unbekümmerter wählen darf, wird schreiben: Die Regierenden waren beschränkt, die Volksvertreter feig.

Es ist nicht wahr, daß Deutschland im Weltkrieg unbedingt unterliegen mußte. Die Riesenkraft des Deutschen Volkes hätte das scheinbar Unmögliche vollbracht, dem Ansturm der Welt zu trotzen. Selbst die Beschränktheit der Regierenden hätte nicht hingereicht, die Niederlage herbeizuführen; erst die Entschlußlosigkeit des Reichstags hat die Niederlage besiegelt. Ein entschlossener Reichstag hätte die Schranken einer beschränkten Regierung durchbrochen. Es gab in Deutschland Männer mit ebenso starken und mit edleren Seelen als Lloyd George, Clemenceau, Salandra, Wilson; doch sie drangen nicht durch die engen Geistesschranken, hinter denen in Deutschland von einer Partei regiert wurde, und die Parteien, denen unsre Führernaturen angehörten, wagten nicht einmal an jene Schranken zu pochen, geschweige sie zu durchbrechen.

So sehe ich mit den Augen eines 78jährigen, der beinah 60 Jahre dem Regieren in Deutschland denkend zugesehen, die Ursachen der Niederlage des Vaterlandes. – Das Schicksal? Es gibt nur eins: Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann! Und dem Volk schaffen es seine Führer.

*

Hierzu ist ein Nachwort nötig. Das Kaiserwort ›Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche‹ ist überhaupt nicht aus der Seele Wilhelms 2. entsprungen! Gedanke und Ausdruck waren seiner Seelenwelt fremd. Von wem rührten jene Worte her, die früher stets als der vollendete Ausdruck eines großen Augenblicks gegolten haben? Von einem Zeitungsmann, von meinem guten alten August Stein, dem Vertreter einer demokratischen Zeitung! Dies ist kein Geschichtchen, sondern Geschichte, und ihr Gewährsmann Otto Hammann erzählt sie durchaus glaubwürdig so (in seiner Schrift ›Um den Kaiser‹, 1919, auf S. 144):

Am Vormittag des 1. August teilte mir August Stein von der Frankfurter Zeitung mit, daß er zuverlässig erfahren habe, eine Minderheit in der sozialdemokratischen Partei werde sich vielleicht im Reichstage bei Bewilligung der Kriegskredite von der Mehrheit trennen; die unglücklichen Kaiserworte von den vaterlandslosen Gesellen, der Rotte, nicht würdig, den Namen Deutsche zu tragen, wirkten noch immer fort und gefährdeten die notwendige Einigkeit. Da ich wußte, daß der Kanzler mittags Vortrag beim Kaiser haben würde, ließ ich mich sogleich bei ihm melden. Beim Vortrag schlug ich vor, den Kaiser so schnell als möglich zu einer neuen Kundgebung zu veranlassen, die die früheren lodernden Beleidigungen gegen die sozialdemokratische Arbeiterpartei wieder auslösche, etwa in der Form, daß es jetzt für ihn keinen Unterschied der Parteien mehr gebe und er sich jedem Deutschen in gleichem Maße verbunden fühle. Dem Kanzler war natürlich sofort klar, wieviel von der inneren Geschlossenheit des ganzen Volkes abhing, und es gelang ihm ohne Mühe, den Kaiser zu einem solchen Widerruf (?) zu bestimmen. Allerdings fiel dieser in der noch am selben Nachmittag gesprochenen zweiten Balkonrede so aus, wie es seiner Auffassung vom Gottesgnadentum entsprach. Den Worten: wenn es zum Kriege komme, höre jede Partei auf, wir seien nur noch Deutsche Brüder, fügte er hinzu: ›In Friedenszeiten hat mich ja wohl die eine oder die andere Partei angegriffen, das verzeihe ich von ganzem Herzen. Erst nach Verlesung der Thronrede im Weißen Saale kam der Versöhnungsgedanke in einem frei gesprochenen Zusatz in der für seine Schlagkraft nötigen Kürze und Reinheit heraus: ›Ich wiederhole, ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.‹

Der Versöhnungsgedanke? Wilhelm 2. vergab seinen Schuldigern; hat er aber auch gesagt: Und vergebt mir meine Schuld, vergebt mir meine Beleidigungen? – Aber wie leicht zu lenken sind die Völker durch ein gutes Wort ihrer Herrscher! Wie hat auf das ganze Volk das Wort ›Ich kenne keine Parteien‹ gewirkt! Und war doch nur ein Wort. Wie hätte es gewirkt, wenn es eine Tat geworden wäre!

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