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Alphonse Daudet (1840-1897)

Meine Briefbekanntschaft mit Daudet rührte her aus meiner ›Magazin‹-Zeit. In seinem Roman ›Die Könige in der Verbannung‹, kommt ein drolliges Geschichtchen vor: ein königlicher Liebhaber macht seiner Geliebten ein Löwenäffchen ( ouistiti) zum Geschenk als Zeichen, daß er sie verabschiede. Dies ist in jedem solchen Falle seine höchst königliche Verabschiedungsformel. Ein Leser des Magazins wies darauf hin, daß in Goethes Erzählung ›Die guten Weiber‹ eine ganz ähnliche Geschichte berichtet wird. Ich sandte das Heft an Daudet und frug ihn nach der gemeinsamen Quelle seiner und Goethes Geschichte. Daß Daudet sie aus Goethes Erzählung habe, war mir höchst unwahrscheinlich; ich vermutete, wie fast immer in ähnlichen Fällen, eine ältere französische Quelle. Daudet antwortete mir überaus liebenswürdig: er wisse nichts von Goethes Geschichte, habe sie in der Tat aus einer französischen Erzählung des 18. Jahrhunderts, freue sich über die Begegnung mit dem großen Deutschen Meister.

In den folgenden Jahren gingen gelegentliche Briefgrüße hin und her. Daudet sandte mir jedes seiner neuen Werke, ich las und besprach, er ließ sich meine Besprechungen übersetzen und schrieb mir darüber. Als ich im ›Zarenjahr‹ 1896 in Paris war, frug ich bei dem Dichter an, ob ich ihm genehm sei; er lud mich umgehend für den folgenden Vormittag ein. Daudet wohnte in einem vornehmen Hause des Faubourg Saint-Germain; eine Dienerin führte mich in sein Arbeitszimmer. Daß er sich nicht von dem Ruhebett erhob, auf dem er mit einem Stock in der Hand saß, befremdete mich nicht, denn er bewillkommente mich, ohne sich zu erheben, sogleich in einer so herzlichen Weise, daß ich alle Nebenumstände übersah.

Daudets schöner Männerkopf ist bekannt; ich lernte den menschlich und künstlerisch wertvollsten Franzosen kennen, der mir je begegnet ist. Er sagte mir nach der ersten Begrüßung mit wahrhafter Teilnahme: Jeder Deutsche, der mich besucht, muß mir vor allem von der Kunst Deutschlands berichten. Sagen Sie mir, wie es bei Ihnen mit der Dichtung steht. Sie kennen unsre Literatur, das weiß ich. – Daudet hatte durch einen gemeinsamen Bekannten, Joseph Reinach, den ehemaligen Vertrauten Gambettas, von meiner Geschichte der französischen Literatur gehört und den ihn selbst betreffenden Abschnitt übersetzen lassen. Ich sagte ihm in kurzen Worten etwas über den Roman, das Drama, die Lieddichtung in Deutschland, nannte ihm wenige Namen, denn die sagten ihm nichts – er wußte etwas von Sudermann, nichts von Hauptmann –, setzte ihm vielmehr auseinander, was für Stoffe hauptsächlich bei uns behandelt wurden, wie die Leser und die Zuhörer sich dazu verhielten. So viel wußte er schon: Ihr Drama ist ernsthafter als das französische, denn bei Ihnen gibt es noch andre Stoffe als die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau. – Ich warf ein: der Frau eines Andern, was ihn herzlich zustimmend lachen machte.

Jedes rühmende Wort über sein eignes Lebenswerk lehnte er ab: Reden wir von den Andern! Dann frug er mich nach meiner Meinung über Heines bleibende Bedeutung. Als ich erwähnte, daß man in Deutschland allgemein glaube, die Franzosen kennten Heine gut, widersprach er: Das ist eine Legende; selbst sehr gebildete Franzosen, selbst die Schriftsteller kennen ihn sehr wenig, sprechen über ihn nur nach, wissen bei Licht besehn nicht viel mehr als den Namen Angri Ähn und daß er ein sehr geistreicher Spötter gewesen. Viel mehr weiß ich selber nicht von ihm. Seufzend fügte er hinzu: Wir Franzosen sind und bleiben die großen Nichtswisser in allem, was nicht französisch ist. Teils aus Höflichkeit, teils aus Überzeugung erwiderte ich ihm: Das ist das Gebrechen einer Tugend; die Griechen wußten auch nichts von andern Völkern. Entzückt und dankbar sprach er von Paul Lindau, der ihn vor bald 25 Jahren zuerst in Deutschland bekannt gemacht habe. Ich konnte ihm bestätigen, welchen Eindruck damals Lindaus großer Aufsatz in der ›Gegenwart‹ über den Roman › Fromont jeune et Risler aîné‹ gemacht habe. – In Deutschland gelesen und geschätzt zu werden, ist mir eine wahre Freude und Ehre; das ist etwas andres als der Ruhm in Rußland und Südamerika.

Ganz unbefangen sprach Daudet über die Belagerung von Paris im Winter 1870; er habe gehungert wie alle Welt, ›aber nicht zu sehr‹, habe Dienst als Landwehrmann getan, man sei vor fieberhafter Erregung nicht recht zum Bewußtsein des Hungergefühls gekommen, auch habe es nicht sehr lange gedauert. – Nicht ein Wort gegen Deutschland, selbst nicht in der schonendsten Form. Vom Elsaß wurde nicht gesprochen.

Mehrmals hatte ich aufbrechen wollen, er hielt mich immer wieder zurück: Ich habe solche Unterhaltungen jetzt nötiger als je, vous savez – ich wußte nichts, sagte nichts und blieb gern. Ich genoß das Glück, diesen großen Dichter, den ich noch heute für den einzigen bleibenden seines ganzen Zeitalters in Frankreich halte, sprechen zu hören, lauter kluge und gute Worte. Als ich mich endlich empfahl, nach beinah zwei Stunden, reichte er mir beide Hände und blieb sitzen: Ich kann Sie nicht begleiten, Sie wissen –. Ich machte wohl ein fragendes Gesicht, und er sagte: Das Aufstehen wird mir schwer, das Gehen ohne Hilfe unmöglich. Ich frug nicht, warum, sondern ging mit dem Wunsche, ihn das nächste Mal in völliger Gesundheit und Kraft wiederzusehn. Er lächelte schmerzlich.

Am nächsten Tage erfuhr ich von Jules Lemaître, warum Daudet mich nicht zur Tür geleitet hatte: Er ist verloren, rettungslos, Rückgratlähmung; ein Wunder, daß er noch lebt. – Daudet hat sich noch bis ins nächste Jahr, 1897, gequält.

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