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Menschen, nicht Dinge

Dieses Buch meiner Lebenserinnerungen ist überschrieben ›Menschen und Dinge‹, und als Titel mag das hingehen, weil es kurz andeutet, was darin steht. Einer der meine Lebensanschauung bestimmenden Grundgedanken aber lautet: Es gibt nur Menschen, keine Dinge. In einem sehr langen Leben, inmitten sehr großer Umschwünge – ich habe denkend schon Düppel, bewußt 1866, mit voller Seele dabei 1870/71 erlebt –, da hat sich mir der Satz: Es gibt nur Menschen, keine Dinge, von Spanne zu Spanne schärfer geformt, aufklärender bestätigt.

Die Verständigung mit dem Leser über das, was mit Dingen gemeint ist, fällt nicht schwer. Seit einem guten Jahrhundert zunehmend beherrscht ›die Idee‹ die Denk- und Sprachform der Deutschen Weltdeuter – sie heißen meist Philosophen –, die europäischen, jetzt wohl auch die amerikanischen Geister. Fichte, Hegel, Schelling haben den Menschen, der nach der Weltanschauung der Alten ›das Maß aller Dinge‹ war, beseitigt und an seine Stelle die ›Idee‹ gesetzt, die außermenschliche Idee, die Idee an sich. Sie haben nicht gewußt, was die Idee sei, aber es ließen sich Bücher über das Nichtgewußte schreiben; wenn sie unverständlich waren, nannte man sie wissenschaftlich, und ihre Wissenschaftlichkeit stieg mit der Zahl verblasener Fremdwörter.

Seit mehr als einem Jahrhundert erklärt der größte Teil der Wissenschaft, besonders der Deutschen, die Umschwünge in der Geschichte der Menschheit durch Denkwörter. So nenne ich das, was sonst Abstrakta heißt. Unsichtige Nebelwörter im Gegensatze zu sichtigen Sonnenwörtern. Der große Einzelmensch, der die Masse Mensch in Bewegung setzt und dadurch Geschichte macht, zählt nicht als das, was er in Wahrheit ist: der Erzeuger jeder großen Bewegung, sondern als der durch ein Nebelding mit einem Nebelwort Erzeugte. Seit mehr als einem Jahrhundert vollzieht sich die Geschichte – nach der Ansicht der meisten Geschichtschreiber – durch: Strömungen, Verhältnisse – besonders ökonomische, soziale, soziologische, geopolitische, zentralistische, militärische, kommerzielle usw., immer aus Welsch –, Interessen, Imperialismus, Expansionsbestrebungen (wessen?), – die Reihe der welschen Nebelwörter ließe sich stark vermehren.

Diese nebelhaften Versuche, die Geschehnisse innerhalb einzelner Völker, die Umschwünge in ganzen Erdteilen ›restlos‹ zu erklären, finden in andern Ländern als Deutschland schon deshalb weniger Anklang, weil die Sprache, damit das Denken, der andern großen Bildungsvölker weniger nebelhaft, weniger denkwörterlich, gar nicht fremdwörterlich ist. In Deutschland sieht oder glaubt man zu sehen: Strömungen, Entwicklungen, Verhältnisse, Interessen, und vergißt man, daß hinter allen diesen Denkwörtern Menschen stehen mit Fleisch, Blut, Willen, Leidenschaften, Klugheit, Wut; anderswo sieht man vor allem den Menschen. Die Engländer mit ihrem ewigen Nebelwetter, aber mit ihrem hellen Sinn für die Wirklichkeit haben vor einem Menschenalter den Gedanken scharf geprägt, nach ihrer Gewohnheit stabreimend: Men, not measures (Männer, nicht Maßregeln), also Menschen, nicht Gesetze, Verordnungen, überhaupt nicht Dinge. Ich kann aber versichern, daß mein Satz: ›Menschen, nicht Dinge‹ von mir schon gedacht, ja schon niedergeschrieben war, bevor ich den englischen gelesen. Indessen auf den zeitlichen Vorrang kommt nichts an.

Die Geschichte wird von den großen Menschen gemacht, von keinem sonst, von keinem Ding. Die großen Menschen bedienen sich zu ihrem Geschichtemachen der kleinen Menschen, sehr vieler kleiner, ganzer Millionen; aber die Macher sind sie, so wie die großen Dichtungen von den großen Machern, den Poieten oder Poeten oder Dichtern gemacht werden, nicht von Strömungen, Entwicklungen, Tendenzen. Für die Künste werden selbst in Deutschland die Künstler für die Hauptmacher angesehen; für die Staats- und Weltgeschichte arbeitet man mit Denkwörtern, die Menschen gehen nur so nebenher.

Bei mir ist der Satz: Menschen, nicht Dinge so sehr zur Grundform meines Geisteslebens geworden, daß ich auf jede Klage über einen üblen Zustand der öffentlichen Dinge frage: Wie heißt der Kerl? Eltern klagen über den Unsinn, daß ihre Kinder in den höheren Schulen viele fremde Sprachen lernen, alle dürftig, das Deutsche so jämmerlich, daß man sich selbst in Deutschland dessen schämt. Ich erwidere: Wie heißt der Kerl, oder die Kerle? – Man sagt mir: Könnten denn die Unterrichtsbehörden nicht –? Ich unterbreche: Es gibt keine Behörden, es gibt nur Beamte, Menschen, Kerle, also Räte im Ministerium und den Minister selbst. Solange Sie von Behörden, also nebelhaften Dingen, sprechen, kann es nicht besser werden; sprechen Sie von den Menschen, halten Sie sich an die Menschen!

Ich überspringe Jahrtausende und lande im Anfang des 19. Jahrhunderts. Wer hat Preußen bei Jena besiegt, und wer hat die Schlacht verloren? Napoleon war der Sieger, Friedrich Wilhelm 3. wurde besiegt. Sagt nicht: die Zustände im preußischen Heer hatten Schuld; – es gab keine Zustände, es gab nur Friedrich Wilhelm 3. Aber sagt beileibe nicht etwa: Dieser König hat bei Leipzig gesiegt; auch das preußische Volk hat dort nicht gesiegt, so unentbehrlich es dazu war, sondern die großen treibenden Menschen, ein gutes Dutzend, die wir kennen.

Mußte der Berliner Aufstand im März 1848 ausbrechen? War die »Strömung« so stark, so unaufhaltbar? Der Aufstand brach los, weil der damalige König von Preußen Friedrich Wilhelm 4. war, ein gewandter Redner, beschränkter Denker, ohnmächtiger Handler.

Kann man sich die Einigung Deutschlands in der Zeit von 1862 bis 1871 denken ohne Bismarck? Ein andrer König als Wilhelm I, an der Spitze, dessen schon niedergeschriebene Abdankung vollzogen, ehe Bismarck sie in Fetzen riß, König Friedrich 3. 1862 auf dem Throne Preußens –: sieht man nicht Menschen, ausschließlich Menschen die Schicksale eines Volkes bestimmen?

Man höre endlich auf, von andern Vorbereitern und Entfesslern des Weltkrieges zu reden als von den uns nur zu wohlbekannten Menschen an der Spitze der vier Länder Deutschland, Rußland, Frankreich, England! Daß Wilhelm 2. den Krieg nicht gewollt hat, steht heute selbst für die unwissendsten Amerikaner – ich meine in den leitenden Schichten –, die gehässigsten Franzosen, die heuchlerischsten Engländer fest. In Deutschland vollends hat jeder gebildete oder halbgebildete Mensch von jeher gewußt, daß Wilhelm 2. überhaupt keinen Krieg ernstlich wollte, sich nur in dessen Siegesglanz und Siegerkranz phantastisch sonnte, vor der Wirklichkeit, der er sich nicht gewachsen fühlte, angstvoll zurückschrak. Dennoch ist er, in all seiner bebenden Furcht vor dem Kriege, dessen unabsichtlicher Hauptschürer gewesen, er der eine Mensch. Nicht Handelsneid hat Englands Entschluß, sich im Fall eines Krieges unsern zwei Feinden im Osten und Westen anzuschließen, vorbereitet und entschieden; sondern weit überwiegend, fast ausschließlich Wilhelms 2. menschliches und staatliches Betragen gegen England, besonders gegen die Menschen an der Spitze Englands. Wilhelm 2. hatte alle Trümpfe im Spiel mit England in der Hand: durch seine Geburt, durch seine englische Mutter, seine englische Großmutter, seinen englischen Oheim, und er hat alle diese Trümpfe verschleudert. Das tat dieser eine Mensch. Ein andrer Mensch an dem Platze, von dem ein unseliger Zufall, eine unverschuldete Krankheit ihn 10, 20 Jahre zu früh wegrissen, Kaiser Friedrich in ungebrochener Manneskraft 10, 20 Jahre Deutschlands Herrscher, und wir hätten ein Bündnis mit England bekommen, das jeden Angriff Rußlands und Frankreichs, dazu den Abfall Italiens vom Dreibund, verhindert hätte.

Es ist nicht wahr, daß England Kriege aus Handelsneid geführt hat. Um Deutschlands Wettbewerb zu lähmen, seine Handelsflotte zu vernichten, hätte es nicht eine Million seiner Männer geopfert. Nur eine unmittelbare Bedrohung seines Lebens als Großmacht hat es nie geduldet, konnte es nicht dulden, und durch Wilhelm 2. wurde sie bedroht. Durch die immer wiederholten Versicherungen des Kaisers, daß die Deutsche Flotte England nicht bedrohe, konnte keine englische Regierung sich einschläfern lassen. Es mußte sogar wundernehmen, daß England uns so lange hatte gewähren lassen: die Deutsche Flotte war schon eine furchtbare Gefahr für England geworden, und nur die Entschlußlahmheit Wilhelms 2. hat es vor der Niederlage zur See, vor dem Verlust seiner Großmachtstellung gerettet. Ein mutiger Kaiser an der Spitze Deutschlands, der das Wort ›Ran an den Feind!‹ zur Tat gemacht hätte, und – wir brauchten zu dieser Stunde nicht in Paris darum zu feilschen, auf wie viele Jahrzehnte hinaus wir jährlich 2-3 Milliarden Mark Gold als Lösegeld an die siegreichen Feinde zahlen müssen.

Der Deutsche Staatssekretär des Äußern Schoen hatte 1910 dringend geraten, Elsaß-Lothringen zu einem gleichberechtigten Deutschen Bundesstaat zu machen. Ein tiefblickender und zugleich vorausschauender Staatsmann auf dem Posten des Reichskanzlers, und die elsässische Frage wäre damals – im letzten uns noch gelassenen Augenblick der Weltgeschichte – so gelöst werden, daß die seit 1871 blutende Wunde des französischen Stolzes und Ehrgeizes sich endlich hätte schließen können. Aber auf dem Posten stand damals Bethmann. Auch Poincaré und Nikolaus 2. waren die für den Ausbruch des Weltkrieges durchaus unentbehrlichen zwei Menschen. Wie notwendig für den unglücklichen Ausgang des Weltkrieges Erzberger als treibende Kraft des Zentrums war, steht heute unbestreitbar fest.

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Menschen, nicht Dinge – es gilt auch für geistige Erscheinungen. Wie ist der ›Naturalismus‹ in der Deutschen Literatur um die Mitte der 80er Jahre entstanden, wie hat er sich bis in die 90er hinein gesteigert? Ein Mensch, ein Franzose, hat ihn vorgemacht, einige junge Deutsche Schriftsteller haben ihn nachgemacht, wie ja die meisten Umschwünge in der Deutschen Dichtung durch Anstöße vom Ausland her eingeleitet wurden. Der Ruhm der Romane Zolas drang seit 1879 nach Deutschland; man las ihn, übersetzte ihn, ahmte ihn nach, denn er war leicht nachzuahmen. Ich kann grade über die Entstehung dieses Ismus aus sehr genauer Kenntnis eignen Miterlebens urteilen. Ich gab seit 1879 das ›Magazin für Literatur‹ heraus, in meinem Hause verkehrte der Dichterling Bleibtreu, der bald darauf der ›Patriarch‹ der neuen ›Strömung, Richtung, Entwicklung‹ – lauter Denkwörter auf ung – werden sollte und der vor Zolas überwältigendem Ruhm durchaus kein ›Naturalist‹, sondern ein phantastischer Schwarbler war, ein Nachäffer Byrons. Auch die Brüder Hart, Arno Holz, Henckell waren keine ›Naturalisten‹, sondern hochgestimmte Dichter des Edlen, Schönen, Wahren, nicht des Gemeinen. Aber Naturalismus war die große Mode, von Frankreich wurde sie über Deutschland verbreitet; Michael Conrad, ursprünglich auch kein Naturalist, hatte sich an Zola berauscht, Arno Holz an Conrad; der junge Gerhart Hauptmann, dichterisch ganz unselbständig, berauschte sich an Arno Holz dem ›konsequentesten Naturalisten‹ –: so entstehen die Ismusse und die Isten. Durch Menschen, gewöhnlich durch einen Menschen, nicht durch Dinge wie Strömungen, Richtungen, Entwicklungen.

Brauchen noch mehr Beispiele genannt zu werden? Die staatlichen sind die leichtest verständlichen. Kennt ihr Mussolini? Ihr sagt Faszismus, weil ihr gern etwas auf ismus sagt. Der Faszismus ist Mussolini. Fasci heißt: Bündel, Faszismus: Machtbund, der Bund zur Aufrichtung der neuen Weltmacht Italien als Nachfolgerin des Imperium Romanum. Diesen Gedanken hatte der eine Mensch Mussolini erfaßt – meinethalben der Gedanke ihn erfaßt –; aber erst durch diesen einen Menschen bekam der Gedanke Leben, der Gedanke wurde Mensch, dieser Mensch schmiedet das neue Weltreich Italien; er vollbringt es oder geht daran zugrunde.

Ihr kennt Kemal Pascha? Die Türkei war zwei Menschenalter hindurch, seit dem Krimkrieg, der kranke Mann Europas. Ein gesunder Mensch, und der kranke Mann stand auf, nahm sein Krankenbett und schritt fürbaß – einer neuen Zukunft entgegen. Der kranke Mann ist jetzt gesünder als mancher noch vor 15 Jahren von Scheingesundheit strotzender. Mit welcher Verachtung blickten die drei letzten Zaren auf die Türkei! Wo in Rußland düngt heute Nikolaus des Zweiten Asche den Acker? Auch er war ein Mensch, ein sehr mächtiger, aber ganz wertloser; er hatte die Macht, sein Volk ins Verderben zu stürzen, und dazu war er so geeignet wie kein andrer Zar. Wenn Rußland wieder ein Land wird, worin Menschen mit Freude wohnen und der Welt zur Freude gereichen, dann nur durch einen Menschen. Er wird kommen, er ist schon geboren, der große russische Mann, der ein Mensch ist, kein Ding, keine Strömung, Richtung, Entwicklung.

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