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Kunst muß es geben; – muß es Kunstschreiber geben? Oder sagen wir, da Kunstschreiber ein schwerfälliges Wort ist, kürzer und besser: Kenner, unterscheiden wir also Könner und Kenner. Ja, es muß auch Kenner geben, denn in den drei Jahrtausenden der Menschheitkunst haben sich soviele Werke angesammelt, daß die Menschen, die sich mit ihnen sonderlich abgeben und die weniger Kundigen liebreich beraten, eine nützliche Menschenklasse sind. Ich selbst gehöre dazu und halte meine Tätigkeit – zwar nicht für unentbehrlich, aber nicht für ganz unnütz. Ich urteile so nicht aus dem eignen unausrottbaren Dünkel, sondern nach den Versicherungen sehr vieler Leser, die mir gesagt, daß meine Schriften ihnen genützt haben. Ich könnte ein paar Briefe darüber abdrucken – der gebildete Deutsche nennt dergleichen › documents humains‹, weil man etwas so Feines nur auf Französisch sagen kann; aber ich begnüge mich mit der Verewigung eines Falles, worin der Nutzen meines Daseins sich berechenbar kundgetan hat. Ein Leser meiner Bücher frug bei mir an, ob er den soeben erschienenen Roman eines Ganzgroßen, des zur Zeit Ganzgrößten, kaufen und seiner Frau zu Weihnachten (1928) schenken solle. Ich antwortete ihm: er solle vorher lesen, was ich über den Roman in einem meiner Bücher sage, ihn sich dann leihen, lesen und seiner Frau für die gesparten 7½ Mark ein Paar seidene Strümpfe schenken. Da ich bei meinen Lesern Vertrauen genieße, so tat der Mann, wie ich ihm geraten, und sogleich nach Weihnachten bekam ich einen Dankbrief von Mann und Frau: er habe nur 10 Seiten des Romans des Ganzgroßen gelesen, ihn dann weggeworfen, weil er Hautzucken vor den darin geschilderten Läusen und Ekel vor den dazu gehörigen Menschen bekommen habe; so habe er viele Stunden Zeit gespart, seine Bücherei nicht mit solchem Schund verschmutzt, 7½ Mark in der Tasche behalten, und dafür habe ich mir, so fügte die Frau hinzu, ein Paar schöne Seidenstrümpfe gekauft.
Es muß auch Kunstkenner geben, also Kunstschreiber, aber bescheiden müssen sie sein. Sie dürfen sich nicht einbilden, neben den Könnern zu stehen, gleichberechtigt, wohl gar bevorrechtet. Alfred Kerr unterscheidet nicht drei, sondern vier Hauptgattungen der Dichtkunst: Lyrik, Epik, Dramatik, – Kritik. Das ist, milde gesagt, falsch, die Kritik ist zur Not entbehrlich. Die kunstliebende Menschheit hat dreitausend Jahre nur die drei ersten Iken gekannt und ist dabei glücklich gewesen; die Kritik ist erst 200 Jahre alt, und wenn man die Menschheit über ihren Wert befragen könnte, so würde man zu hören bekommen: Die Kritik ist ein notwendiges – sagen wir: Hilfsmittel der zum Unterscheiden gezwungenen Bildung. Kritik heißt nämlich Unterscheidung; sie unterscheidet die Werke der Andern, der Könner, und damit soll sie sich begnügen. Das Wort Goethes behält Recht selbst gegen Alfred Kerr im ›Tag‹:
O ihr Tags- und Splitterrichter,
Splittert nur nicht alles klein!
Denn, fürwahr! der schlechtste Dichter
Wird noch euer Meister sein.
Kerr ist der Schüler eines Schererschülers und in seiner rührenden Aufrichtigkeit hat er die innerste Überzeugung der ganzen nach Scherer benannten Schule verraten, die sonst immer verschwiegen wurde: Die Literatur ist um der Literaturwissenschaft da und gewinnt erst Wert durch diese. Das kommt bei Kerr so heraus: ›Nichtig bleibt alles [alle Dichtung], bis es in seelische Bestandteile zerlegt ist‹ [vom Poesieprofessor und Zeitungskritiker]. Jetzt weiß der Leser, um was der Kampf zwischen den Könnern und den Kennern geht.
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Die heutige Leserwelt hat sich gewöhnt, die Kunstfragen vom Standpunkt des Zeitungslesers zu beurteilen. Die meisten Zeitungen stellen sich im Streit zwischen Könnern und Kennern auf die Seite der Kenner. Das ist menschlich, darum begreiflich, denn keiner beißt sich gern selbst die Nase ab. Da die Zeitung zweifellos mehr von Kennern als von Könnern geschrieben wird, so wäre es gegen die menschliche Natur, wenn in der Presse nicht eine gewisse Überschätzung der Kritik, der Kunstschreiberei herrschte. Der Kunstschreiber, der sich und seine Leistung maßlos überschätzt, rechnet dabei bewußt oder unbewußt mit dem Gefühl des nichtskönnenden Philisters, der nichts lieber hört, als daß er selbst garnicht so weit hinter dem Könner zurücksteht. Klug über ein Kunstwerk zu reden, oder sich einzubilden, das eigne Gerede darüber sei klug, betrachtet jeder Philister als sein Recht schon seit den Tagen des Zeuxis und Apelles. Nie wird ein Mensch, der in seinem ganzen Leben keinen künstlerischen Gedanken erdacht, keinen in die künstlerische Wirklichkeit übersetzt hat, vollkommen begreifen, welche unüberbrückbare Kluft zwischen ihm und dem Künstler gähnt. An diesem Punkte der philisterhaften Überhebung des Nichtskönners setzt der sich überhebende Kunstschreiber den Hebel an, und da er in seiner Zeitung mit jedem Satze zu Hunderttausenden spricht, der Könner allein steht, nur mit seinem Werke, also zu Wenigen spricht, so ist es dem ›Kenner‹ eine Kleinigkeit, die Welt der Kunst – nach seiner Meinung – aus den Angeln zu heben.
Eine einfache Frage und ihre Beantwortung entscheiden den ganzen Streit: gibt es in der Geschichte der Weltliteratur ein Beispiel für die bestimmende Macht des Kenners auf ein großes Kunstwerk? Die ganze berufsmäßige Kennerschaft und Kunstschreiberei sind ja eine sehr junge menschliche Tätigkeit. Erst vom Anfang des 18. Jahrhunderts kann man sie als eine der Kräfte des Gesamtbildungslebens unterscheiden. Was findet man da für Deutschland? Nichts, rein garnichts. Unabhängig von der schon damals erstaunlich entwickelten Kennerschaft in den Deutschen Zeitschriften sind alle große Werke des klassischen Zeitalters entstanden, und unabhängig von der scheinbar einflußreichen Gegnerschaft in der gelehrten Zeitschrift – man denke an Gottsched! – haben sie alle sich durchgesetzt. Aus seinem eignen innersten Wesen heraus hat Klopstock den ›Messias‹, diesen ersten großen Adelsbrief neudeutscher Sprache und Dichtung, geschaffen. Was hat Lessing für seine ›Minna‹, was Goethe für den ›Götz‹ und den ›Werther‹, was Schiller für seine ›Räuber‹ der zeitgenössischen Kunstschreiberei verdankt? Will man auch nur behaupten, daß Schillers Fortschreiten von den ›Räubern‹ zum ›Carlos‹ auf den Einfluß der Kenner zurückzuführen sei? Keine Rede davon, sondern innere Erlebnisse, seelisches Wachstum, Kunstarbeit an sich selbst haben aus unsern zwei großen Himmelsstürmern unser klassisches Dichterpaar gemacht.
Das ganze Altertum ist ohne Berufskennerschaft und Kunstschreiberei ausgekommen. Homer, Äschylos, Sophokles, Aristophanes haben sich ihren Ruhm, schon bei den Zeitgenossen, ohne jedes Mitreden berufsmäßiger Kenner erworben. Dasselbe gilt von Dante. Es ist nicht wahr, daß erst durch die Kunstschreiber die Kunstwerke zu ihrer vollen Bedeutung gelangen. Man erwäge nur das Beispiel der Dramen Shakespeares. Waren es etwa die englischen Kunstschreiber, die den während mehr als eines Jahrhunderts, des 17ten, versunkenen Schatz wieder an die Oberfläche des Kunstlebens in England hoben? Durchaus nicht! Durch sich selbst haben sich Shakespeares Werke in England zum zweiten Mal durchgesetzt, nachdem das Zeitalter des Puritanertums und der Nachahmerei der französischen Klassiker nach dem ewigen Gesetz von Bewegung und Gegenbewegung abgelaufen war. Ein großer Darsteller, Garrick, war es, der die ja nie ganz vergessenen Dramen Shakespeares zuerst wieder leibhaftig seinem Volk vor die Augen stellte. Lange bevor die kunstgelehrte Arbeit an Shakespeares Werken begonnen, war er in England wieder die Hauptgestalt des Bühnenlebens geworden.
Und wer hat Shakespeare in Deutschland eingebürgert? Etwa die Kunstschreiber? Die Dichter sind es gewesen: Wieland, Lessing, Goethe hatten Deutschland zur zweiten Heimat des Shakespeare-Dramas gemacht schon vor Schlegels Übersetzung; und selbst Schlegels Verdienst war doch überwiegend das des nachdichtenden Übersetzers, neben dem seine Kunstschreiberbetrachtungen kaum der Rede wert sind.
Es gibt keinen einzigen Fall in der Geschichte der Weltliteratur, in dem ein großer Umschwung der Dichtung durch einen bloßen Kunstschreiber angestoßen oder gar herbeigeführt worden wäre. Der für uns Deutsche bedeutsamste Vorgang war doch wohl der des Sturzes der französischen Oberherrschaft über die Deutsche Dichtung. Wer hat den ersten und sogleich vernichtenden Streich gegen das ›klassische‹ Drama der Franzosen geführt? Lessing der Kenner, der aber zugleich ein Dichter war; und nur weil er ein Dichter war, weil er in sich die Schöpferkraft fühlte, das lebendige Deutsche Drama zu schaffen, hat er sich zu jenem Streiche berechtigt gehalten. Auch Gottsched der Kunstschreiber ist nicht durch einen andern Kunstschreiber von seinem angemaßten Herrscherthron gestürzt worden, sondern Überhebung dazu, nur einen Augenblick an dem endgültigen Siege der Könner über die Kenner zu zweifeln.
Solche Beispiele werden sich wiederholen, solange es Kenner und Könner gibt, solange der Kampf zwischen der Zeitung und dem Buche währt. Es gehört eine außergewöhnliche Kurzsichtigkeit oder Überhebung dazu, um nur einen Augenblick an dem endgültigen Siege der Könner über die Kenner zu zweifeln.
Die letzte Entscheidung in diesem Kampfe ruht bei der Hochbildungswelt. Die Presse dünkt sich allmächtig, weil sie in der ganz einzigen Lage ist, daß mit ihrer Hilfe Einer im selben Augenblick zu Hunderttausenden spricht. Und wenn das tagein tagaus, jahrein jahraus geschieht, es ist doch alles wirkungslos, ›es ist so, als ob der Sand am Meer murmelt‹, wie sich Goethe ausdrückte, – die Entscheidung wird von der Einsicht der Gebildetsten gefällt, nicht von den Beherrschern des bedruckten Zeitungspapiers. Ein Beispiel, ein einziges: die ›Berühmtheit‹ Stefan Georges ist ganz und gar das Werk der Kunstschreiber, der Presse. Mehr und mehr Kunstschreiber haben ihn in der Presse für den übermenschlichen, den hohenpriesterlichen, den göttlichen Dichter erklärt. Eisig hat sich gegen all dieses Kunstgeschreibe die Hochbildung verhalten. Ein Sturm der Begeisterung, ein künstlicher im Wasserglase, brauste an Georges 60stem Geburtstag über Deutschland dahin; vier, fünf Poesieprofessoren schmetterten aus ihren amtlich abgestempelten Posaunen den Ruhm des Überdante in die Lande. Alles umsonst, die Gebildeten lesen George nicht; die es um der Bildung willen versucht haben, legen seine Gedichte gelangweilt, angeödet, angeekelt aus der Hand und sagen entschlossen: Nie wieder! Es wird sich zeigen, daß die Presse ganz ohnmächtig gewesen; aber sie lernt aus solchen Erfahrungen genau so wenig wie alle Andre: sie wird fortfahren, an ihre Allmacht zu glauben, denn sie lebt von diesem Glauben.