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Obenan siehe dies: außerhalb der Katholikenkreise Deutschlands war sein Gesamtbild grundfalsch. Das nichtkatholische Deutsche Volk dachte von ihm nur Böses: ränkevoller, listenreicher Schlaufuchs, Reichsfeind, ein wahrer Mephisto. Das war dummes Zeug: Windthorst war ein edler, lauterer Mensch, gütig, uneigennützig, einfach im Leben, arm im Tode. Wie er sich zum preußischen Staat, der sich Hannover einverleibt hatte, wie er sich zum Deutschen Reiche verhielt, dessen Kaiser ein Protestant war, steht auf besonderen Blättern.
›Die kleine Exzellenz, die Perle von Meppen‹ wurde er von 1867, seit seinem Eintritt ins preußische Abgeordnetenhaus, oberflächlich scherzend genannt, und bis zu seinem Tode immer ein wenig läppisch beurteilt. Wer den sehr kleinen, ältlichen, entzückend häßlichen Mann so genau gekannt hat, wie ich z. B., dem ist die ganze Art, wie man von ihm in den Kreisen der Unkundigen sprach, recht albern vorgekommen. Windthorst war ganz anders, als die Menge dachte, auf alle Fälle unvergleichlich besser als sein Ruf.
Den Deutschen Katholiken sind Name, Wirken, Bedeutung Windthorsts noch heute bekannt, vertraut, lieb wie die manches Heiligen. Aus dem Gedächtnis aller Andrer beginnt Windthorst zu versinken, wie fast alle nur vom Parlament her Berühmte. Er teilt das Schicksal Twestens, Hoverbecks, Laskers, und wie bald wird man von Eugen Richter kaum noch den Namen kennen! Die Deutsche Geschichte wird Windthorst stets nennen müssen, wo von den Widersachern Bismarcks die Rede ist; aber wie sehr wird mit der Zeit der Abschnitt schrumpfen, der von Bismarcks Kämpfen mit den gegnerischen Parteien handelt. Aller Parlamentsruhm verweht, denn fast alle Reden sind nur bewegte Luft. Windthorst war der Führer des Zentrums, 25 Jahre lang; Schriften hat er nicht hinterlassen, selbst ein unvergeßbares geflügeltes Wort ist von ihm nicht geblieben, – woran also könnte sich die Nachwelt halten, sie die ja nur mit Hilfe schonungsloser Vergeßlichkeit ihr geistiges Eigenleben retten kann?
Was hat Windthorst, der wegen seiner angeblich unerhörten Klugheit angestaunte Parteiführer und Staatsmann, Greifbares erreicht? Doch nur Eins, allerdings etwas sehr Folgenreiches: er, oft er allein, hat seine aus gar verschiedenen, auseinander strebenden Bestandteilen zusammengesetzte Partei wie mit eisernem Reifen umschmiedet, er, das körperlich winzige, schwache, stille, zarte, bis zur Halbblindheit kurzsichtige Männeken, der kleinste unter allen Abgeordneten, ein Seitenstück zu Adolf Menzel, dem kleinsten unter den Großen seines Zeitalters. Windthorsts Partei liebte, verehrte, liebkoste ihren Führer; ihm entschieden zu widersprechen, war unschicklich. Er hat wohl mehr als einmal Widerstand erlebt, ihn aber stets durch die Kraft seiner Sanftmut und die Ehrerbietung vor seiner erprobten Klugheit überwunden.
Schlechtunterrichtete haben ihn den Fuchs genannt. Dieses Bild ist krumm, schief, ganz verzerrt. Er war durchaus nicht besonders listig; im Gegenteil er dachte und redete und handelte gradlinig. Seine Erfolge waren die Früchte einer tief und fest – ja hier muß ich, zum ersten Mal in meinem Leben, das Wort ›verankert‹ gebrauchen – also einer festverankerten Weltanschauung. Wie sollte ich sonst sagen? Daß man es auch von einer neuen Käsebereitung sagt, kann mich nicht hindern, es einmal an der richtigen Stelle zu wählen, denn das Bild ist für eine Überzeugung wie die des welfischen Katholiken Windthorst das einzig treffende. Wurzeln lassen sich herausreißen, ein Anker beißt sich klammernd fest. Seine Grundüberzeugung war: der katholische Glauben ist der einzig wahre, die katholische Kirche ist ewig, sie überdauert selbst das Welfenreich, das doch ›bis ans Ende aller Tage‹ dauern sollte, wenn es nach des letzten Königs von Hannover Glauben gegangen wäre. Die katholische Kirche ist unbesiegbar, auch der mächtigste Gegner zerspellt an ihr, auch ein Bismarck der Eiserne ist machtlos gegen sie, die Demantene. Die Kirche und ihre Vorkämpfer werden obsiegen, › praevalebunt‹, wenn diese nur mit unbiegsamer Ausdauer, unbeugsamer Starrheit Widerstand leisten. Dies war Windthorsts ganze Klugheit, dies seine scheu bewunderte List, sein einziger leitender Grundsatz, und damit ist er Sieger geblieben in Bismarcks vom Anbeginn verfehltem Kampfe gegen die weltumspannende Gewalt über Millionen von Menschengeistern, die da heißt katholische Kirche. Bismarck war viel klüger, unendlich listenreicher als Windthorst, aber gesiegt hat Windthorst, der Träger eines Gedankens, er der sich nur der Gedankenkräfte bediente. Dem eisernen Kanzler standen alle Gendarmen Preußens zur Verfügung, aber wo war die größere Macht eines Gedankens? Womit nichts gesagt sei über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines Gedankens.
Bismarck war klug genug, einzusehen – viel zu spät –, daß er der Schwächere sei, und lenkte ein, lenkte um; der Kulturkampf war gegen ihn entschieden. Im Jahr 1874 wurde auf dem Burgberg in Harzburg die Spitzsäule errichtet mit der stolzen Inschrift: ›Nach Canossa gehen wir nicht‹; der Satz war von Bismarck gesprochen worden. Ach gar bald wurde vom treffenden Volksmutterwitz die Zeichensetzung ein wenig geändert: ›Nach Canossa gehen wir, nicht?‹ Und Bismarck ging, – das Canossa des Jahres 1878 hieß Kissingen. – Windthorst hatte gesiegt, aber keiner hat ihn frohlocken gehört. Er hatte den Anteil der Eitelkeit, ohne den nach Goethe der Mensch nicht leben kann und sich erhängen soll, aber nicht mehr als diesen notwendigen Anteil.
Als Redner war Windthorst nach Inhalt und Form ganz unbedeutend. Er war weder gedankentief, noch sprachgewandt, noch wuchtig durch Ausdruck und Klang. Wer weiß wie oft hat er sich zum Worte gemeldet ohne den kleinsten Entwurf, ohne einen Faden zu einer geschlossenen Rede. Faden? Sein Faden waren die nie ausbleibenden Zwischenrufe; ohne diese war Windthorst verloren, stotterte, wartete, rief sie bewußt hervor durch einen Spaß, ein nicht bös gemeintes ärgerndes Wort, manchmal durch eine Plattheit. Man kannte seine Rednerart, man wußte, wie er auf Zwischenrufe angelegt war, und man tat dem lieben alten Knaben den Gefallen, warf ihm den Ball zu. So lebte denn der Redner Windthorst von einem Zwischenruf zum andern, mit Redestoff für 5 Minuten versorgt. Der Zwischenruf war seine Rettungsleine.
Geistreich war Windthorst sehr selten. Er brauchte das nicht; er konnte dieselben paar einfachen, fast platten Gedanken immerfort wiederholen, das schadete seiner Wirkung gar nichts. Jeder Andre, von einer kleinen Partei, wäre mit solchen Rednergaben unbeachtet geblieben, ein ›Hausleerer‹, wie der uralte Parlamentswitz lautete. Doch hinter Windthorst standen 100 Mann, in jeder Tagung mehr als der vierte Teil des Hauses, dazu der polnische, elsässische, welfische Anhang: zusammen gab das ein Drittel aller Stimmen, und vom Drittel bis zur Mehrheit fehlte knapp ein Sechstel. Nur auf diese Tatsache der Macht hat Bismarck Wert gelegt. Nur auf Windthorsts Bedeutung als des Führers der stärksten Partei des Reichstags. Nach der durch Bismarck herbeigeführten Zersplitterung der Nationalliberalen hat er bei seinem Kräftespiel mit den Parteien Windthorst richtig gewertet: nur mit dem Zentrum war der Übergang zum Schutzzoll, zu erhöhten Eigeneinnahmen des Reiches aus Zöllen möglich. Als selbständige geistige Kraft im Staatsleben kam Windthorst für Bismarck nicht in Betracht, da standen Richter und Bebel höher; aber deren vereinte Anhängerschaften warfen nicht so viele Stimmen in die Wagschale der Abstimmung wie das Zentrum.
Windthorst sprach im mündlichen Verkehr ziemlich schnell, ja erregt; als Redner im Reichstag ungewöhnlich langsam: er hatte nicht Gedanken genug, um schnell sprechen zu können oder zu müssen. Er wartete, bis ihm die fördernden Zwischenrufe entgegengeworfen wurden. So war Windthorst der erklärte Liebling der Stenografen, eine wahre Erholung für sie nach den vielen Rednern, die zwar auch nicht viel zu sagen hatten, jedoch über die Gabe des Wortsprudels geboten.
Ein besonderer feiner Kunstgriff des erfahrenen Greises Windthorst bestand darin: wenn er heftigen Widerspruch und Lärm hervorgerufen hatte, gelassen zu schweigen, oder, wenn der Lärm im Verebben war, ganz leise wiedereinzusetzen. Man sah, daß er sprach; war neugierig, was er erwidern mochte, – so entstand sehr schnell wieder tiefe Stille. Wie oft hat Windthorst dieses ausgezeichnete Mittel, Öl in die Brandung zu gießen, als wirksam erprobt! Jedesmal ist es ihm geglückt.
Den Menschen Windthorst haben selbst seine Feinde geachtet. Ich weiß aus genauer Kenntnis, ein wie herzensgütiger Mann er gewesen. Mancher arme Diener des Reichstags hatte sich in bedrängter Lage an ihn um Hilfe gewandt, – nie hat er ganz versagt. Bei der Nachricht seines Todes habe ich die Diener des Zentrums in Tränen gesehen und den alten Hausmeister des Reichstags in der Leipziger Straße schluchzend. Unbewegt ist keiner geblieben, der ihn lange gekannt hatte.
Windthorst war noch viel kurzsichtiger als ich. Mich kannte er sozusagen von Kindesbeinen an, und wie heiter scherzte er, wenn ich, so oft er in mein Amtszimmer gekommen war, um nach dem Schicksal seiner letzten Rede zu fragen, ihn dann an meinem Arm wieder in den Saal geleitete, auf daß er sich nicht an den Wänden der ein wenig verschlungenen Gänge und an den Türpfosten stieße. Ich sehe ihn, ich höre ihn, während ich dies schreibe; – ist es nicht etwas Wunderbares um das treue Gedächtnis des innern Auges, des seelischen Ohrs?
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