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Um die Wende des neuen Jahrhunderts bin ich ihm einige Male auf den Schiffen seiner Gesellschaft, der Hamburg-Amerika-Linie, begegnet. Er hatte das eine oder andre meiner Bücher, manchen Aufsatz von mir im Hamburger Fremdenblatt gelesen und war mir wohlgesinnt. Was mir an ihm, dem mächtigen Beherrscher der größten Schiffsgesellschaft der Welt, am meisten, aufs angenehmste auffiel, war die ungemeine Feinheit, Zartheit, Beherrschtheit seines ganzen Wesens. Von Andern habe ich erfahren, wie kraftvoll und entschieden, bis zur Schroffheit, er unter Umständen auftreten konnte. Mir ist nur die Erinnerung eines sanften Mannes geblieben, der aber stets den Eindruck machte, auf wie sicherm Grunde er stand und wie weithinaus er schaute. Selbst bei solchen Gelegenheiten wie der ersten Fahrt von Schiffen, die eine Wende in der Weltwirtschaft bedeuteten, z. B. des ›Deutschland‹ der ›Amerika‹, des ›Imperator‹. Seine Augen leuchteten von innerer Freude und hohem Stolz, aber kein lautes Wort, kein Prahlsatz, kein Sichindiebrustwerfen.
Wir sprachen auf einer Fahrt nach Amerika von dem wundersamen Fortschritt des drahtlosen Fernverkehrs zwischen Land und Meer. Ich sah nur den Fortschritt; da meinte er: ja gewiß, großartig, Fortschritt, so sagt man, und ich sage es auch; aber sehen Sie: früher war mir eine Reise nach Newyork eine seelische Erholung, wenigstens 10 Tage war ich ganz frei von der Sorge, die mir sonst jede Morgenpost bringen konnte; jetzt erreicht mich jedes Unglück, jede Krankheit in meinem Hause zu jeder Stunde, – darum nehme ich gleich meine beiden liebsten Menschen mit, und er stellte mich seiner Frau und seinem Töchterchen vor, die ihn auf der ersten Fahrt der Amerika begleiteten.
Und bescheiden! Ganz unscheinbar ging er auf jener denkwürdigen Fahrt des damals größten und schönsten Schiffes der Welt zwischen den Fahrgästen einher. Wer ihn nicht kannte, bemerkte nicht das mindeste Herrscherhafte an diesem vornehmen, ganz einfachen Menschen.
Er war mit seiner Gesellschaft, die ihm ihren Aufschwung aus zunehmender Versumpfung verdankte, ganz und gar eins geworden. Mit der Zeit glich er mehr und mehr einem der alten Kapitäne seiner Gesellschaft. Wie seltsam – ein Jude an der Spitze der größten Reederei und selbst durchaus ein Seemann! Eine Gestalt wie diese hatte der jüdische Menschenstamm in seiner 3000jährigen Geschichte nicht hervorgebracht. Man hat im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts oft davon gesprochen, Ballin werde Minister werden, als ob das einen Aufstieg für ihn bedeutet hätte! Möglich daß der Kaiser bei Ballin so etwas angeregt hat; dieser aber hat in seiner Kenntnis der Verhältnisse am preußischen Hof garwohl gewußt, wie wenig dauernde Bedeutung ein preußischer Minister hatte, und wie unmöglich er gegenüber der Allmacht des Junkertums sein würde.
Als Deutschland zusammenbrach, zerbrach ihm sein Leben; er traute sich nicht mehr zu, den Wiederaufbau des Vaterlandes und seiner geraubten geliebten Hamburger Flotte zu erleben. Seine körperliche und seelische Kraft war schon durch den langen Krieg gebrochen, während dessen seine Flotte in fremden, zum Teil feindlich gewordenen Häfen eingesperrt, in Hamburg ohne Aussicht auf Fahrt vor Anker lag. So schied er freiwillig aus dem Leben, das für ihn keinen Wert mehr hatte.
Sein Andenken ist heute, nach elf Jahren, in Hamburg, aber weit darüber hinaus, auch im feindlichen Ausland, noch wunderbar lebendig. Er gehört zu den Männern jener Zeit, deren Namen noch sehr lange erklingen werden.
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Es gibt noch eine andre Erklärung für Ballins Scheiden aus dem Leben: die späte Erkenntnis seines vollständigen Irrtums über den Seekrieg gegen England. Ballin hatte den ganzen Krieg hindurch auf der Seite Derer gestanden, die gegen das Einsetzen der Deutschen Flotte waren und den Kaiser so berieten. Der Kern von Ballins Ansicht ergibt sich aus seinem Brief an Tirpitz vom 1. Oktober 1914: ›… Ich bin überzeugt, daß … immer vorausgesetzt, daß es uns gelingt, Frankreich und Belgien zu Boden zu ringen …, Englands Forderungen [wer hatte dann zu fordern?] mit Bezug auf die Überlegenheit im Flottenbau sehr mäßig sein werden … Und der weitere Verlauf des Krieges? Ich hoffe, daß Sie die Flotte nicht einsetzen werden … Die Flotte ist in meinen Augen nie etwas anderes gewesen und darf nichts anderes sein wie die unerläßliche Reserve einer gesunden Weltwirtschaft. Und ebensowenig wie ein gewissenhafter Direktor die Reserven seiner Gesellschaft angreifen wird, solange nicht die bitterste Notwendigkeit ihn dazu zwingt, ebensowenig sollte man die Flotte in den Krieg hineinziehn, so lange nicht der härteste Zwang dafür vorliegt … Glauben Sie, verehrte Exzellenz, daß es eine glückliche Vorbereitung des Friedens wäre, wenn es der Deutschen Flotte gelingt, der englischen Flotte eine Seeschlacht zu liefern? Das wäre ein irriger Glaube. Meines Erachtens ist das Gegenteil der Fall … Wenn die Engländer auf maritimem Gebiet eine große Schlappe erlitten haben, dann müssen sie kämpfen bis auf den letzten Mann und auf den letzten Groschen.‹
Heute wissen wir, daß diese Auffassung grundfalsch war; damals erschien sie einem der klügsten Männer als die größte Klugheit. Die Geschichte hat, wie schon oftmals zuvor, bewiesen, daß nicht die – doch immer nur vermutbare – höchste Klugheit im Kriege entscheidet, sondern der höchste Mut und die äußerste Entschlossenheit. Uber den Wert der vermeintlichen Klugheit belehrt uns die Zukunft, und sie hat oft bewiesen, daß das, was uns heute sehr klug erschien, in Wahrheit sehr töricht war. Hingegen über den Wert des Mutes und der Entschlossenheit, die sehr verschieden sind von Tollkühnheit und Übereilung, brauchen wir keine Belehrung durch die Zukunft.
Ballin hatte – man denke: nach dem Verlust der Marneschlacht! – nicht erkannt, daß der Augenblick eingetreten war, wo die bitterste Notwendigkeit, der härteste Zwang vorlag, die Reserven anzugreifen, also die Flotte einzusetzen. An die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit eines Deutschen Seesieges über England hatte Ballin offenbar geglaubt, aber einen solchen Sieg für höchst verderblich gehalten. Im Kriege gibt es nur ein höchstes Ziel: den Sieg; wie der auszuwerten ist, darüber mag nachher die Klugheit entscheiden.
Ballin stand dem Kreise der kleingläubigen Männer Deutschlands nahe, zu dem freilich Tirpitz nicht gehörte. Er hielt die Engländer nicht für gewöhnliche Menschen, wie wir, wie die Franzosen, die Russen es sind, die sich in eine Niederlage finden, sich über sie wieder zu erheben suchen, sondern für Halbgötter. Es erschien ihm möglich, England zu besiegen, aber er fürchtete solchen Sieg. So haben die Männer gedacht, die des Kaisers Ohr hatten. Ballin hat mit seiner Auffassung nicht allein gestanden, sie herrschte an den entscheidenden Stellen vor. Seine Mahnung an Tirpitz, die Flotte nicht einzusetzen, war doppelt unnütz: Tirpitz dachte anders als Ballin, aber er hatte schon damals nichts zu sagen, ließ sich aber diesen unwürdigen Zustand noch 1½ Jahre gefallen.
Hätten wir den Engländern die große Schlappe zur See beigebracht, die von unsern besten Flottekundigen für sehr wohl erreichbar gehalten wurde, so wäre in England ein ganz neuer Seelenzustand eingetreten. Eine verlorene Seeschlacht mit ihren furchtbaren Schiffsverlusten konnte bedeuten: Niederzwingen auf die Kniee durch Hunger und durch Landung eines Deutschen Heeres in England; sie konnte bedeuten: Finis Angliae – für lange, natürlich nicht für immer. Die Engländer sind sehr kluge Leute: sie selbst haben gewußt und gesagt, daß ihre Niederlage zur See, der Verlust der Freiheit der Meere, für England die Unterwerfung unter den Deutschen Willen bedeuten würde. Auf alle Fälle wäre es den Engländern nach dem Zerschlagen ihrer Flotte sehr schwer geworden, bis zum letzten Mann und zum letzten Groschen zu kämpfen. Dies war nur eine Phrase Ballins, und Phrasen taugen nie etwas. Den Engländern konnte der letzte Mann und der letzte Groschen nichts helfen, wenn ihre letzten Schiffe nicht mehr den Feind zur See bekämpfen und die eigne Küste schützen konnten.
Nach einem entscheidenden Deutschen Seesiege hätten wir die undurchdringliche Seesperre gegen England durchgeführt, wie England gegen uns, mit viel zwingenderer Wirkung als die englische gegen uns. England hätte uns einen Frieden angeboten, wir hätten ihn angenommen und ihn, wenn Klugheit gewaltet hätte, so gestaltet, daß ein friedliches Nebeneinanderleben Deutschlands und Englands nach dem Kriege möglich gewesen wäre.
Ewig aber bleibt der Satz in Geltung: die Voraussetzung jedes politischen Erfolges im Kriege ist der Sieg, einzig der Sieg. Alle unsre Feinde haben so gedacht, darnach gehandelt; nur in Deutschland gab es Menschen, kluge, einflußreiche, bewunderte, die anders dachten: der Weg zum Frieden führt nur über die Niederlage. Friedrich Naumann, der für einen politischen Geistesriesen gehaltene, hat im September 1917 bei den Nachrichten der vernichtenden Schläge gegen Rußland gejammert, im Reichstag: Auf diesem Wege kommen wir nicht zum Frieden. Bald nach jenen Schlägen bot uns das geschlagene, bolschewikisch hochmütige Rußland den Frieden an. Ja es war so, – heute faßt man es nicht, ich habe es schon damals nicht gefaßt: In Deutschland haben sich viele der klügsten, oder doch für ausbündig klug gehaltenen Männer vor nichts so sehr gefürchtet wie vor einem Deutschen Siege und seinen entsetzlichen Folgen.
Ballin hatte zu diesen Klugen gehört. Als ihm die Ereignisse bewiesen, daß seine Klugheit ihn auf den falschen Weg geführt, da war er vernichtet. Als er las: die Flotte in Kiel hat gemeutert – die Flotte, die nicht einzusetzen er geraten, die in den Kriegshäfen gefault hatte –, da nahm er alle Schlafpulver, die der Schlaflose gesammelt, und legte sich zum ewigen Schlafe nieder.
All dies klingt wie Treppenwitz, – es ist keiner: ich habe Zeugen dafür, daß ich von 1914 bis 1918 immerfort so gesprochen habe, und in den 6 Bänden meines armen Kriegstagebuchs steht es auf mehr als einer Seite gedruckt zu lesen. Daß Mut mächtiger ist als Klugheit, ist eine durch die Jahrtausende bestätigte, unerschütterliche Wahrheit. Mut ist die höchste Klugheit. Bismarcks Erfolge gegen Deutschlands Feinde beruhten weit mehr auf seinem Mut als auf seiner Klugheit. So Kluge wie Bismarck hat es zwischen 1864 und 1870 in Deutschland viele gegeben, einen so Klugen und Mutigen zugleich nur ihn. Klug waren sie alle: Bethmann und Moltke der Neffe, der Generaloberst Bülow, der Oberstleutnant Hentsch, der Admiral von Müller und der Admiral von Holtzendorf. Klug waren auch Michaelis, Hertling, Max von Baden. In den Büchern, die sie alle über ihre Taten im Weltkrieg geschrieben, steht, wie klug sie gewesen. Von seinem Mut wagt keiner zu sprechen, und das ist wirklich klug.
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